Claudia Steinhardt-Hirsch: Correggios >Notte<. Ein Meisterwerk der italienischen Renaissance, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008, 394 S., 9 Farb-, 86 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06647-2, EUR 51,00
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Im Mittelpunkt der Arbeit von Claudia Steinhardt-Hirsch steht eines der berühmtesten Altarbilder Correggios (1489?-1534), die in der Galerie Alte Meister in Dresden aufbewahrte Anbetung der Hirten, der schon im 17. Jahrhundert der Beiname La Notte verliehen worden war. In fünf facettenreichen Kapiteln erforscht die Autorin die Geschichte des Werks und seines Künstlers, ein sechster Abschnitt ist der bildlichen und schriftlichen Rezeption des Gemäldes gewidmet.
Die monografischen Untersuchungen zu Correggio, eigentlich Antonio Allegri, von Gould, Popham und Ekserdjian haben sich in erster Linie mit Fragen der chronologischen und stilistischen Ordnung und Einordnung beschäftigt, ikonografische und ikonologische Probleme sowie eine Rekonstruktion des kulturellen und sozialen Umfelds aber weitgehend unberücksichtigt gelassen. Diese "Schwächen" begründen die Notwendigkeit einer Rückkehr zu kunsthistorischen Schriften, die den Werken Correggios eine stärkere Einbindung in den Kunstbetrieb der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts zusprechen. Denn zunächst hält Steinhardt-Hirsch fest, dass die innovative Bildsprache Correggios außerhalb der klassischen Kunstzentren der italienischen Renaissance, Florenz, Rom und Venedig, entsteht. Correggio äußert sich in einer "Peripherie", der, wie schon Lanzi feststellt, keine Malerschule zugeordnet werden kann.
"In der Eroberung des Willens durch die Empfindung" sah Alois Riegl 1908 die Bedeutung Correggios für die folgende Kunstentwicklung. Wie auch Michelangelo aus der Renaissance ausgegliedert, wird er seit Burckhardt zu einem Wegbereiter des Barockstils erklärt. Der von Max Dvorak geprägte Begriff des Manierismus dient der Autorin als Leitfaden für eine Rückführung des Gemäldes in den Bereich der Meisterwerke der Renaissance.
In Kapitel II bespricht die Autorin die historischen Voraussetzungen für die Entstehung der Notte um dann rasch zu einer ausführlichen Bildbeschreibung (Kapitel III) überzugehen, die mit einem Vergleich zwischen dem ausgeführten Bild und der Vorzeichnung im Fitzwilliam Museum von 1522 sowie einer Eingliederung der Notte in das Werk Correggios endet. Entgegen der bisher vorgeschlagenen Datierung um 1525 spricht sich Steinhardt-Hirsch für eine Entstehung der Notte zwischen 1527 und 1530 aus. Dieser Hypothese kann nur zugestimmt werden. Denn sowohl die diagonale Figurenkomposition als auch die dynamische Beziehung der Figuren zueinander sind dabei ebenso überzeugende Argumente wie die harmonischen und vereinheitlichenden Lichtverhältnisse. Der Vergleich mit der um 1528 datierten Madonna des heiligen Hieronymus (Il Giorno) und mit der etwas späteren Madonna della Scodella, beide in der Galleria Nazionale in Parma, machen dies deutlich.
Einen wesentlichen Schlüssel für eine Bewertung der Notte, und freilich auch anderer Werke, erkennt Claudia Steinhardt-Hirsch in der Beziehung Correggios zur Cassinesischen Kongregation der Benediktiner. Kapitel V ist diesem Thema gewidmet. Schon 1514 war der Maler in San Benedetto Po tätig und 1521 erfolgte seine Aufnahme in die Laienbruderschaft der Kongregation, gerade zu jener Zeit, als er mit der Freskierung der Kuppel von San Giovanni Evangelista in Parma beschäftigt war. Die thematische Gestaltung der religiösen Bilder konnte von den theologischen Diskussionen im Kloster und dem religiös-humanistischen Kontext wohl nicht unberührt bleiben.
Das malerische Schaffen ist dabei keineswegs als simpler Ausdruck einer religiösen Doktrin zu verstehen. In diesem Zusammenhang ist der von Steinhardt-Hirsch aufgegriffene Verweis auf die Parallelen zum Bildhauer Antonio Begarelli aus Modena sehr überzeugend. Die "das Menschliche betonende künstlerische Auffassung" (160), die sowohl Correggio als auch Begarelli eigen ist, kann vom formalen Standpunkt aus durchaus als eine Auseinandersetzung mit Raffael und Leonardo verstanden werden. In Abschnitt IV (87-128) werden mit Hilfe der Begriffe vivacità, affectus, rilievo, vaghezza, colorire und "come fingere una notte" die entsprechenden Einflussbereiche präzise herausgearbeitet. Die abschließende Frage, wie Correggio in die ästhetischen und kunsttheoretischen Diskussionen seiner Zeit involviert war und wie groß seine Kenntnis konkreter Werke tatsächlich war, muss grundsätzlich offen bleiben. Sie erfährt allerdings durch die stärkere Bewertung der Cassinesischen Religiosität entscheidende neue Facettierungen. Denn die gefühlsbetonte und intensive Hinwendung zum Bildbetrachter entspricht einem lokalen emilianischen Stil, der den inhaltlichen Stilerwartungen der Cassineser entgegenkommt.
Die im Kloster San Giovanni in Parma verfassten Laudes zur Geburt Christi von Eusebio Valentino und die Schriften Isidoro Clarios stellen das göttliche Licht ins Zentrum des Geburtsgeschehens. Diese Lichtmetapher findet ihre Entsprechung in Correggios Altarbild, wo das von Christus ausstrahlende Licht die nächtliche Szene warm erhellt. Die über Emotionen transportierten religiösen Aussagen, "die liebliche Zartheit und der freundliche Charakterzug der Figuren, ebenso die besondere Weichheit in der Behandlung von Licht und Farbe vermitteln eine höchst menschliche Vorstellung von Religion und Glauben" (171). In der Notte vermitteln die innerlich bewegten Hirten die Haltung des Gläubigen gegenüber dem Wunder der Weihnachtsnacht, in dem sich das Geschenk der Gnade Gottes offenbart. "Der wahre Glaube ist die Erkenntnis der Gnade Gottes" schreibt der Cassineser Benedetto da Mantova und fordert den Gläubigen auf, sich von der Liebe Gottes entflammen zu lassen.
Die Gnadenthematik ist in mehreren Werken Correggios nachvollziehbar und keineswegs an Aufträge vonseiten der Kongregation gebunden. Auch im Fall der Anbetung der Hirten ist eine Nähe des Auftraggebers zu den Cassinesern ja nicht nachweisbar. Claudia Steinhardt-Hirsch kommt demnach zu dem Schluss, dass Correggio innerhalb der Kongregation eine "geistige Atmosphäre vorfand, die seiner religiösen Überzeugung am nächsten kam" (171). Grundlegend ist hier die Abgrenzung gegenüber einer Interpretation, wie etwa jener von Giancarla Periti zu Il Giorno, die versucht, eine Brücke zur Gnadenlehre des Erasmus von Rotterdam zu schlagen.
Dieses Kapitel erweist sich als Kernstück des Buchs. Es ist einerseits der Abschluss der vier vorangehenden Abschnitte, andererseits aber auch spannende Vorbereitung auf den umfangreichen, der Rezeptionsgeschichte gewidmeten, letzten Teil (173-271). Mit der historischen und theologischen Verankerung der Notte ist jener Raum geschaffen, der dem Bild den Weg in die Freiheit weist. Am Ende des 16. Jahrhunderts hat die Wertschätzung Correggios in den kunsttheoretischen Schriften von Giovanni Paolo Lomazzo ihren ersten Höhepunkt erfahren. Aber schon kurz vorher waren durch die Rezeption vonseiten Annibale Carraccis die Weichen für die malerische fortuna im Barock gestellt worden. Steinhardt-Hirsch spannt den Bogen von Francesco Albani, Domenichino, Giovanni Lanfranco bis zum römischen Spätbarock und Carlo Maratta. Für die Verbreitung der correggesken Bildkomposition außerhalb Italiens spielt schließlich Rubens eine herausragende Rolle, während die Grazie der Figuren dem französischen Kunstsinn des 18. Jahrhunderts besonders entgegenkam.
Die Übersiedlung der Notte von ihrem ursprünglichen Aufstellungsort in der Kapelle Pratonieri in San Prospero in Reggio Emilia in die herzoglichen Sammlungen von Modena im Jahr 1640 hat die Rezeptionsgeschichte ebenso beeinflusst wie der hundert Jahre später erfolgte Verkauf an den kurfürstlichen Hof in Dresden. Hier hat sie der junge Anton Raphael Mengs gesehen und mit ihm erfährt die bildliche Auseinandersetzung mit der Notte einen letzten Höhepunkt.
Martina Frank