Nancy H. Yeide: Beyond the Dreams of Avarice. The Hermann Goering Collection, Dallas: Laurel Publishing 2009, vi + 518 S., ISBN 978-0-9774349-1-6, USD 250,00
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1996 hat Jonathan Petropoulos in seinem Buch "Art as Politics in the Third Reich" einen vernachlässigten Aspekt des NS-Herrschaftssystems untersucht, die Kunstsammelwut der Naziführer. Nach Petropoulos legten diese Sammlungen an, um eine Überlegenheit ihrer Person, Partei, Nation und Rasse zu suggerieren und sich der traditionellen Elite anzugleichen. Das Deutungsmuster trifft in besonderem Maße auf Hermann Göring zu, den zweiten Mann im NS-Staat. Dessen Sammelwut setzte um 1938 ein, in Zusammenhang mit der Ausstattung seines Jagdsitzes Carinhall und der Bekanntschaft mit dem Kunsthändler Walter Andreas Hofer. Mit dem Krieg kriminalisierten sich seine Erwerbungsmethoden: Er kaufte "arisierte" Sammlungen und arbeitete eng mit dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) zusammen, der wichtigsten NS-Kunstrauborganisation.
Die Sammlung Görings ist heute zerschlagen: Manches Objekt verschwand schon in den Wirren des Kriegsendes, ein Großteil der sichergestellten Bestände wurde restituiert, ein Teil verblieb in deutschem Staatsbesitz, aufgeteilt zwischen dem Bund und Bayern, wovon wiederum ein Teil in den Kunsthandel gelangte und sich heute in unbekanntem Privatbesitz befindet.
1945 hatte die amerikanische Art Looting Investigation Unit (ALIU) einen Bericht "The Goering Collection" vorgelegt, welcher die Nachkriegsliteratur prägte und eine Fokussierung auf Sammlungsgeschichte und Erwerbungsmethoden bewirkte. Doch blieb die Sammlung selbst schemenhaft, da die Überlieferung des Bestandes verworren und problematisch war und ein Gesamtverzeichnis fehlte. [1] Nun legt Nancy H. Yeide, Provenienzforscherin an der National Gallery of Art in Washington, mit ihrem Buch "Beyond the Dreams of Avarice. The Hermann Goering Collection" dieses für die Gemälde vor. Ihr Katalog mit 1900 Objekten ist eine kritische Kompilation diverser Teilverzeichnisse von vor und nach 1945, wobei Yeide ihre Quellen im Kapitel "Methodology and Sources" offenlegt und kritisch bewertet. Je nach Evidenz in den Inventaren unterscheidet sie zwischen gesichertem (1571 A-Nummern), wahrscheinlichem (221 B-Nummern) und unsicherem Bestand (96 C-Nummern).
Das Hauptinteresse der Autorin gilt der Geschichte der einzelnen Gemälde. Ihr Catalogue raisonné berücksichtigt auch solche, welche Göring über einen bestimmten Zeitraum besessen hat, auch wenn er sie später wieder verkaufte oder tauschte. Mit ihrem umfassenden Sammlungsbegriff macht Yeide mit der Vorstellung einer monolithischen Liebhabersammlung Schluss und stellt viele Rückschlüsse auf den Geschmack Görings in Frage. Ein abschließendes Kapitel stellt 131 Gemälde vor, die unmittelbar nach Erwerb eingetauscht wurden, fast ausschließlich Gemälde der französischen Moderne, van Gogh, Picasso und Matisse etwa, aber auch Der Turm der Blauen Pferde von Franz Marc. Das legt die Vermutung nahe, dass auch die modernen Gemälde im Sammlungsbestand für den Tausch vorgesehen waren und jedenfalls nicht als Belege für Geschmackspräferenzen Görings herangezogen werden sollten.
Die offensichtlichste Leistung des Buches liegt im Sichtbarmachen des bis dato Unsichtbaren in einer virtuellen Bildergalerie von gut 200 Seiten, die etwa 80 % der Kollektion in Schwarz-Weiß-Fotografien vorstellt. Sie macht die tradierten Urteile überprüfbar. Görings Behauptung, die bedeutendste Privatsammlung Deutschlands, wenn nicht sogar Europas zu besitzen, stellt sich als Prahlerei heraus. Eine herausragende Qualität wurde erst durch den Zugriff auf 'arisierte' jüdische Sammlungen erreicht. Zwar bestätigt sich, dass der "Renaissancemensch" Gemälde der Spätgotik und Renaissance liebte, doch wird auch deutlich, dass er mit dieser Vorliebe auf einem ererbten Grundstock seines Patenonkels Baron von Epenstein aufbaute (7, mit Abb. von "Erbstücken" in der Bibliothek von Carinhall). Zudem sammelte der Reichsmarschall keineswegs nur "nordische", sondern auch italienische Meister derselben Zeit. Damit überwiegen keineswegs die Frauenakte, sosehr er diese persönlich geschätzt haben mag, sondern religiöse Darstellungen.
Als richtig stellt sich heraus, dass Göring im Unterschied zu Hitler nur wenig deutsche Gemälde des 19. Jahrhunderts besaß. Yeides Bildergalerie zeigt aber auch, dass bei allen Differenzen im Geschmack die Sammlung Görings durchaus von Hitler geprägt war. Die Bismarck-Bildnisse Franz von Lenbachs reflektieren ebenso Vorlieben des "Führers" wie die Schwerpunkte in der niederländischen Malerei des 17. und der französischen des 18. Jahrhunderts. Dass Göring vom berühmten Altersporträt Friedrichs II., gemalt von Anton Graff, zwei Kopien hatte, eine aus Museumsbesitz ausgeliehen, die andere neu angefertigt (A 32 und A 1430), zeigt deutlich den Einfluss: Hitler hatte seit 1934 eine Kopie des Porträts im Reichskanzlerpalais hängen. Beide obersten Nazi-Sammler hielten nicht allzu viel von der propagierten Nazi-Kunst; nur 25 Ankäufe aus der Großen Deutschen Kunstausstellung kann Yeide dokumentieren. Der von Göring protegierte Werner Peiner ist zwar mit acht Gemälden vertreten, doch waren sieben davon Geschenke (11).
Nancy H. Yeide bearbeitete keine existierende Sammlung, sondern Inventare, Listen und Fotos. Als erfahrene Archivforscherin hat sie wiederholt auf die Fehlerhaftigkeit der zeitgenössischen Dokumentation hingewiesen; Skepsis bezüglich seiner Zuverlässigkeit ist vor allem hinsichtlich des "Berchtesgaden Inventory" angebracht, welches die Teile der Sammlung verzeichnet, die im Mai 1945 von amerikanischen Truppen in der Umgebung von Berchtesgaden aufgefunden wurden. Ich habe in Kategorie A mindestens vier Gemälde ausmachen können, die sich in der Privatsammlung Hitlers nachweisen lassen und in den älteren Göring-Inventaren nicht auftauchen: A 1431, 1484, 1497 und 1542 (ein ähnlicher Befund in Kategorie B). Es mag sich bei einigen um Geschenke an Hitler handeln, doch ist in mindestens einem Fall die Provenienz Göring definitiv auszuschließen. [2] Die Annahme, dass Gemälde Hitlers aus dem zerstörtem Berghof bei den chaotischen Verhältnissen auf dem Obersalzberg im Mai 1945 unter den Göring-Bestand und so fälschlicherweise ins amerikanische Inventar gerieten, ist mehr als naheliegend. [3]
Das gewichtige, 518 Seiten dicke, üppig und gut bebilderte Werk legt endlich eine seriöse und tragfähige Grundlage für die weitergehende Auseinandersetzung mit Göring als Kunstsammler. Ausgestattet mit Konkordanzen von Inventarnummern des Münchner Central Collecting Point und der Goudstikker-Sammlung zu den Katalog-Nummern, einem Künstler-Verzeichnis und einem Index von Provenienz-Namen dürfte es sich als ein unentbehrliches Arbeitsmittel für die Provenienzforschung erweisen. Das mit 250 Dollar nicht gerade preiswerte Buch ist nur über den Verlag zu beziehen.
Anmerkungen:
[1] Lediglich zu den 128 Gemälden, welche in die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen eingegangen sind, gibt es einen Bestandskatalog: Ilse von zur Mühlen: Die Kunstsammlung Hermann Görings. Ein Provenienzbericht der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, München 2004. Einen Katalog von gut 100 verlorenen Gemälden legte Hanns Christian Löhr vor: "Der Eiserne Sammler". Die Kollektion Göring, Berlin 2009.
[2] A 1497: Das Gemälde kam aus dem Kunsthandel direkt an Hitler: Horst Keßler: Karl Haberstock. Umstrittener Kunsthändler und Mäzen, München / Berlin 2008, 281 und Abb. auf Seite 297.
[3] Zu Hitlers Gemäldesammlung im Berghof: Birgit Schwarz: Geniewahn. Hitler und die Kunst, Wien / Köln / Weimar 2009, 155ff. und 310ff.
Birgit Schwarz