Daniel Schmidt: Schützen und Dienen. Polizisten im Ruhrgebiet in Demokratie und Diktatur 1919-1939 (= Villa ten Hompel. Schriften; Bd. 9), Essen: Klartext 2008, 511 S., ISBN 978-3-89861-929-5, EUR 34,90
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Die Geschichte der uniformierten Polizei im Preußen der Weimarer Jahre ist ein klassisches Thema der politischen Sozialgeschichte. Vor allem der Längsschnitt von Peter Leßmann (1989) sowie die Fallstudie von Christian Knatz (2000) haben hier wichtige Grundlagen gelegt. Leider ist die Polizeigeschichtsschreibung zur Weimarer Republik methodisch über diese Analysen bislang kaum hinausgekommen. Daniel Schmidts im Sommer 2007 abgeschlossene Münsteraner geschichtswissenschaftliche Dissertation integriert auch kulturgeschichtliche Perspektiven und öffnet die Weimarer Polizeigeschichte damit für methodisch sinnvolle und notwendige Aspekte. Im Mittelpunkt steht die Polizei des Ruhrgebiets. Die Arbeit besteht einschließlich der Einleitung und des Fazits aus sieben Teilen. Kapitel 2 und 3 schildern knapp die räumlichen und institutionellen Rahmenbedingungen. Kapitel 4 bietet einen kollektivbiografischen Zugriff auf die Schutzpolizei. Kapitel 5 ist der polizeilichen Praxis in Bürgerkriegssituationen der Endphase der Weimarer Republik vorbehalten, während Kapitel 6 die Schutzpolizei der NS-Zeit bis 1939 analysiert.
Frühere Studien sehen die preußische Schutzpolizei der Weimarer Jahre durch militärische Ausbildung, autoritäre und antidemokratische Grundhaltung der meisten Offiziere sowie durch eine halbwegs demokratische Gesinnung innerhalb der Mannschaften gekennzeichnet. Zudem wird auf die Überlastung durch zahlreiche Einsätze während der politisch hoch umkämpften Endphase der Weimarer Republik verwiesen. Für die Frühphase der NS-Zeit werden nicht nur der relativ bruchlose Übergang in das neue Herrschaftssystem betont, sondern auch die Probleme herausgestrichen, die durch den starken Personal- und Materialtransfer im Zuge der Aufstellung der militärisch ausgerichteten Landespolizei entstanden. Schmidt bestätigt diese Forschungen und fügt ihnen weitere Erkenntnisse hinzu. Vor allem drei Aspekte sind hervorzuheben.
Erstens strukturiert Schmidt das Personal der Schutzpolizei mittels der Einteilung in Dienstkohorten. Mit Blick auf die überwiegende Mehrheit der Polizisten, die Wachtmeisterschaft, dominierten zwei Gruppierungen. Zum einen waren dies die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eingestellten "Sicherheitspolizisten" (geboren zwischen 1890 und 1900). Sie waren geprägt von Freikorpserfahrungen und durch das daran anschließende Leben in den kasernierten Gemeinschaften der Polizeibereitschaften. Antikommunistische Weltbilder waren unter ihnen verfestigt. Revierdiensterfahrungen sammelten sie oft erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Demgegenüber wurde das Berufs- und Selbstverständnis der "Weimarer Polizisten", zwischen 1902 und 1912 geboren, stark durch die Weimarer Polizei geprägt. Diese Polizisten kamen zumeist aus dem städtischen Umfeld ihrer Einsatzorte und weniger aus ländlichen Regionen. Das Offizierskorps, hier bildet Schmidt fünf Dienstkohorten, blieb sehr heterogen und war geprägt von "fast schon pathologisch anmutenden" (227) Minderwertigkeitskomplexen gegenüber den Offizieren der Reichswehr und Wehrmacht.
Zweitens werden mit kulturgeschichtlichen Ansätzen, die bislang nur in der Analyse der Geschichte der bundesdeutschen Schutzpolizei der 1960er Jahre zu finden waren, wichtige Aspekte der Polizeikultur der Weimarer Zeit herausgearbeitet: Der Toten- und Todeskult (387-396), die Bedeutung der gruppengestützten soldatisch-männlich geprägten Dienstgemeinschaft innerhalb der Polizei sowie die darin verankerten Mythen, Erzählungen und Rituale. So wird auch die Verankerung demokratischer Normen und Werte (vor allem innerhalb der Mannschaften) stark relativiert. Selbst einigermaßen demokratische Beamte blieben politisch indifferent. Ihr Handeln war von dichotomischen Weltbildern geprägt, besonders gegenüber der Arbeiterschaft; sie lebten und handelten im "mentalen Bürgerkriegsmodus" (436). Unter dem Dach strenger Kontroll- und Disziplinierungspraktiken wurde ein "heroischer Opfermythos" (435) inszeniert, der auch das polizeiliche "Trauma der Macht- und Wehrlosigkeit" (436) der frühen 1920er Jahre verarbeitete.
Drittens führten nach Schmidt die so konfigurierten Traditionen der uniformierten Polizei während der NS-Zeit zu einer "systemstabilisierenden Selbstvergewisserung der Polizei" (396, 438) - das ist eine wichtige neue These, die durchaus noch mehr hätte betont werden können. Fußend auf dem antibolschewistisch fundierten männlich-soldatischem Selbstbild der Polizeibeamtenschaft erwies sich die NS-Polizeipolitik "mit der gelebten Polizistenkultur weitaus kompatibler [...] als die republikanischen Leitbilder" (438) aus Weimarer Jahren. Seit dem Staatsstreich vom 20. Juli 1932 wurde die preußische Polizei von außen und innen ohne nennenswerte Gegenwehr zerstört. Ihre Struktur wurde umstands- und widerstandslos militarisiert. Mit der Überführung der geschlossenen Verbände in die Landespolizei gingen nicht nur viel Personal und Material verloren. Gleichzeitig musste die Strategie, durch ein dichtes Netz kleinräumiger Reviere den urbanen Raum zu überwachen, aufgegeben werden. Schließlich bewirkte und förderte die "Säuberung in Eigenregie" (437) die Anpassung an das neue Regime. Zudem wurden die neuen Handlungsspielräume z.B. gegenüber politischen Gegnern aus der Arbeiterschaft gern genutzt, um alte Rechnungen zu begleichen. Gleichzeitig verbesserte die NSDAP-Mitgliedschaft individuelle Aufstiegschancen, war also laut Schmidt weniger Ausdruck politischer Überzeugung. Hier ist es allerdings missverständlich, vom Ende der Geschichte der preußischen Schutzpolizei (436) zu sprechen; denn wie der Autor verdienstvoller Weise immer wieder betont, lebten deren Traditionen (bis in die 1960er Jahre) weiter - wie gebrochen auch immer.
Daniel Schmidt hat eine solide, gut geschriebene und quellengesättigte Studie zur preußischen Schutzpolizei im Ruhrgebiet vorgelegt. Insgesamt gesehen reizt die Arbeit allerdings ihr analytisches Potenzial nicht ganz aus. Im Fazit werden die Ergebnisse der Hauptkapitel nicht wirklich zusammengeführt (z.B. die Erkenntnisse der dienstbiografischen Analysen der Alterskohorten nicht eingebaut). Auch bleibt unklar, wie wirksam der eindrucksvoll beschriebene Totenkult innerhalb der Polizei in der Praxis tatsächlich war. Zudem engt die Fokussierung auf politische Konfrontationen die Aussagekraft der Arbeit etwas ein und lässt sie in diesen Teilen kaum über bereits Bekanntes hinauskommen.
Jede Geschichtsschreibung bezieht sich auf die ältere Forschung und entwickelt diese weiter. Mit der Arbeit von Daniel Schmidt sollte das (Wunsch-)Bild einer demokratischen preußischen Polizei der Weimarer Jahre ähnlich ad acta gelegt werden wie die enge analytische Fokussierung auf politische Einsatzfelder der Weimarer Polizei. Es wird Zeit für eine Sozial- und Kulturgeschichte des polizeilichen Dienstalltags in der Weimarer Republik und der NS-Zeit (einschließlich der Kriegsjahre). Dabei sollte nicht nur der Revierdienst, sondern auch die polizeiliche Aufgabenausweitung während der NS-Herrschaft berücksichtigt werden. Denn Polizeiarbeit war in diesen Jahren, wie in Schmidts Studie zu Recht angesprochen wird, nicht nur gekennzeichnet durch die Expansion des Straßenverkehrs und durch die neuen Anforderungen des Luftschutzes, sondern auch durch die Rotation der Polizisten zwischen Heimatfront und den (Mord-)Einsätzen im sogenannten auswärtigen Einsatz. Zudem wäre die Tätigkeit der Schutzpolizei in Zukunft weit stärker unter der Perspektive der Zusammenarbeit mit dem Netzwerk anderer NS-Institutionen wie Gestapo, Kriminalpolizei und NSDAP-Gliederungen zu analysieren.
Klaus Weinhauer