Charlotte Schoell-Glass / Elizabeth Sears: Verzetteln als Methode. Der humanistische Ikonologe William S. Heckscher (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte. Studien, Theorien, Quellen; VI), Berlin: Akademie Verlag 2008, 182 S., ISBN 978-3-05-004449-1, EUR 39,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Seit Frühjahr 2001 befindet sich der Nachlass von William S. Heckscher (1904-1999) im Warburg-Haus Hamburg, zurückgehend auf die großzügige Spende von Roxanne Sanossian Heckscher. Das Konvolut erstreckt sich von der 15.000 Briefe umfassenden Korrespondenz über Materialsammlungen und Zettelkästen bis hin zu handschriftlichen Entwürfen und unpublizierten Manuskripten. Vorliegende Publikation bietet eine Übersicht der inzwischen abgeschlossenen Inventarisierung und ermöglicht den Einblick in einen Schatz, der an Vollständigkeit, Umfang und internationaler Ausrichtung für einen Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts und diesen Ranges an Vergleichbarem sucht. Der Anhang, der Korrespondenzpartner alphabetisch auflistet und regestenartig einen Überblick des Archivs liefert, kann freilich nur eine ungefähre Vorstellung über diese Inhaltsfülle geben. Die abbildungsreiche und sich über 116 Seiten erstreckende Darstellung von Charlotte Schoell-Glass und Elizabeth Sears liefert das Ergebnis einer ersten kritischen Sichtung. Die beiden Verfasserinnen kommen hierbei dem in den letzten Jahren spürbar gesteigerten Interesse an Wissenschaftler-Nachlässen und den damit verbundenen Überlegungen zur Gelehrtenkultur und zu epistemischen Praktiken nach, indem sie ihre Ausführungen gleichsam aus dem reich zitierten Material heraus entwickeln.
Nicht ganz unbescheiden wird angemerkt, dass dieses "Mosaik" aus archivalischen Trouvaillen "dem Emblematiker" Heckscher gefallen hätte (6). Doch bietet der vorliegende Band mehr als ein "Arrangement aus Mosaiksteinen" (6): Eingerahmt werden die ausführlich zitierten Nachlass-Fragmente durch die anschaulich erzählte Laufbahn des Ausnahmegelehrten, die nach der Ausbildung zum Porträtmaler 1931 mit dem Studium in Hamburg begann und nach der Emigration 1936 und Internierung in Kanada (1940/41) über Iowa (1947-1955), Utrecht (1955-1966) und die Duke-University (1966-1974) sowie seit 1936 mehrfach nach Princeton führte. Die methodische Prägung durch Erwin Panofsky wird durchgängig erkennbar: Ausführlich präsentieren Schoell-Glass und Sears die ersten Seminarmitschriften zur Quellenkunde und geben damit Einblicke in die Hamburger Lehrsituation bis zur Entlassung Panofskys (35-37) - kontrastiert durch Heckschers sarkastische Berichte über den Nationalsozialisten Werner Burmeister, bei dem er 1934 promovieren musste (21, 48). Als "Eckermann" und enger Freund Panofskys sammelte Heckscher in Hamburg und Princeton systematisch dessen Dikta, von denen im Band eine Auswahl vorgestellt wird (41-46).
Neben den autobiografischen und teilweise anekdotischen Nachlassfunden (u.a. Erinnerungen an ein Gespräch des 14-jährigen mit Rosa Luxemburg kurz vor ihrer Ermordung; Berichte über Albert Einstein in Princeton) steht die Würdigung des wissenschaftlichen Werks und die Verbundenheit mit der Warburg-Schule im Zentrum. Dies zeigt sich insbesondere auf dem Gebiet der Antiken-Rezeption und in der Emblematik-Forschung, die sich - ergänzt durch philologische Ansätze - wie ein roter Faden durch die Arbeiten Heckschers ziehen. Bereits die Dissertation über römische Ruinen im Mittelalter formulierte entscheidende Anstöße zur Erforschung des Nachlebens der Antike. In zentralen Beiträgen wie dem Artikel "Dornauszieher" (1955) im Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte verfolgte Heckscher diese Fragestellungen weiter, zudem war er in der Gründungsphase am Aufbau des Census-Projekts beteiligt. Internationale Ausstrahlung erlangte Heckscher als Emblematik-Experte: Auch hier führen die Autorinnen das Interesse an Wort-Bild-Beziehungen auf die Hamburger Zeit, namentlich auf ein Referat über Cesare Ripa (1932), zurück, was zur nachhaltigen Beschäftigung mit Andrea Alciati und zu Studien über emblematische Traditionen bis zu Goethe führte. Repräsentativ ausgewiesen für den ikonologischen Ansatz wird die Monografie zu Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp von 1958, in der Heckscher programmatisch sozial- und medizingeschichtliche Ansätze einbezog (81).
Dass Heckscher, der aus einer republikanisch eingestellten Familie stammte, in seinem wissenschaftlichen und pädagogischen Tun auch politische Dimensionen erkannte, wird mehrfach hervorgehoben. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem 'edlen Wilden' bei Tacitus und Shakespeare (ab 1937) entstand in Reaktion auf den Nationalsozialismus und die ersten Emigrationserfahrungen. Später hat Heckscher seine progressive und aufklärerische Haltung auch mit aktiven bildungspolitischen Beiträgen unterstrichen, indem er 1970 auf die drohende Renaissance rassistischer Thesen über intellektuelle Veranlagungen mit dem "Ossabaw Island Project", einem Lehrexperiment mit sechs Schulkindern, antwortete (68f). Gemäß seiner eigenen wechselhaften Biografie erkannte er in Gegenstand und Methode der Kunstgeschichte eine per se internationale Prägung: "Sobald die Kunstgeschichte spezifisch 'deutsch', 'jüdisch', 'marxistisch' oder sonst irgendwie einseitig betont ist, ist es keine Kunstgeschichte mehr, sondern eine Abart völkischer, rassischer, weltanschaulicher Bemühungen", notierte er gegen Ende seines Lebens in Bezug auf eine einseitige Rezeption Panofskys (46).
Heckscher, der mit seinem Referat auf dem Bonner Kunsthistorikertag 1964 das Fundament für Warburgs Wiederentdeckung in der Bundesrepublik legte, verstand sich nicht nur als kritischer Ikonologe, sondern auch als Experimentator, der frei von methodischen Konventionen das spielerische und assoziative Element seiner Forschung betonte. Besonders der Nachlass gilt den Verfasserinnen als intellektuelles Laboratorium: Dort wird dem philologischen Scharfsinn Heckschers nachgespürt, der sich u.a. an notierten Wort- und Übersetzungsspielen zwischen dem Lateinischen, Englischen und Deutschen zeigt. Die dadurch erzielten semantisch-phonetischen Ergebnisse, so eine der Thesen (99), wurden auch erkenntnisleitend für Heckschers Emblematik-Forschungen. Der philologische wie bildbezogene Verknüpfungsansatz offenbart sich zudem in den mehrgleisigen Erschließungsstrategien der Exzerpte, Karteikarten und Ausschnittsammlungen (scrapbooks), die nach alphabetischen, synchronen und thematisch-philologischen Gesichtspunkten geordnet sind (98). Exemplarisch belegt wird der experimentelle und dynamische Charakter des Archivierungssystems anhand der seit 1937 geführten "Primoridia"-Sammlung zu kulturellen "Ersterscheinungen" (100).
Gerade letzterer Problemkomplex, mündend in den titelstiftenden Abschnitt "Verzetteln als Methode", fällt dennoch zu knapp aus. Metaphorisch wird vom Privatarchiv als "Bühne eines Gedächtnistheaters" gesprochen (101). Die etwas emphatisch geratene Würdigung von Heckschers papiernen Verknüpfungsverfahren als Methode zur Überwindung von "Denktabus" (98) hätte dabei noch mehr durch den historischen Vergleich bzw. durch den methodischen Anschluss an Überlegungen zu epistemischen Praktiken ergänzt werden können. [1] Der komprimierten Darstellung fällt auch die stärkere Einbeziehung von methoden- und geistesgeschichtlichen Kontexten zum Opfer: Nur gestreift wird etwa Heckschers Affinität zur Traumdeutung (107); unkommentiert bleiben seine stichwortartigen Notate über Panofskys Ausführungen zum "circulus vitiosus" (34). Derartige Kritikpunkte sollen jedoch nur als Beleg für die inspirierende Lektüre dieses auch sprachlich gelungenen Buchs dienen, das durch Materialreichtum und luzide Ausführungen überzeugt und hoffentlich zu einer weiteren disziplinhistorischen Beschäftigung mit Heckscher anregt.
Anmerkung:
[1] Zum Beispiel: Bruno Latour: Drawing things together, in: Representation in Scientific Practice, ed. by Michael Lynch / Steve Woolgar, Cambridge (Mass.) / London 1990, 19-68; Hans-Jörg Rheinberger: Kritzel und Schnipsel, in: "fülle der combination". Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hgg. von Bernhard J. Dotzler / Sigrid Weigel, München 2005, 343-356. Offenbar nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt a. M. 2007; Henning Trüper: Das Klein-Klein der Arbeit: die Notizführung des Historikers François Louis Ganshof, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18 (2007), 82-104.
Johannes Rößler