Rezension über:

Petra Kuhlmann-Hodick / Gerd Spitzer / Bernhard Maaz u.a.: Carl Gustav Carus. Katalog: Natur und Idee. Essays: Wahrnehmung und Konstruktion, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, 395 S. + 355 S., ISBN 978-3-422-06882-7, EUR 60,00
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Rezension von:
Heike Herber-Fries
Leverkusen
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Heike Herber-Fries: Rezension von: Petra Kuhlmann-Hodick / Gerd Spitzer / Bernhard Maaz u.a.: Carl Gustav Carus. Katalog: Natur und Idee. Essays: Wahrnehmung und Konstruktion, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/15985.html


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Petra Kuhlmann-Hodick / Gerd Spitzer / Bernhard Maaz u.a.: Carl Gustav Carus

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Mehr als vierzig Jahre nach der wegweisenden Publikation von Marianne Prause über den Maler Carl Gustav Carus und der kulturwissenschaftlichen Studie Jutta Müller-Tamms (Kunst als Gipfel der Wissenschaft, 1995) zum Werk des Arztes, Naturforschers und -philosophen, Künstlers und Literaten setzt die nun erschienene, zweibändige Edition von Ausstellungskatalog und Essayband des Deutschen Kunstverlags einen neuen Meilenstein. Sie erforscht das Leben und Wirken eines der letzten deutschen Universalgelehrten, der mit so bedeutenden Zeitgenossen wie Johann Wolfgang von Goethe, Alexander von Humboldt, Ludwig Tieck, Caspar David Friedrich und Lorenz Oken Umgang pflegte. Dank des wohl unermüdlichen Engagements der Herausgeber von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und den Staatlichen Museen zu Berlin gelang es, die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse eines 2008 abgehaltenen Kolloquiums zeitgleich mit dem Erscheinen des Ausstellungskatalogs vorzulegen - eine kaum zu unterschätzende Leistung! Der sehr sorgfältig editierte, interdisziplinär angelegte Essayband versammelt analog zur umfassenden Bildungs-, Forschungs- und Publikationstätigkeit des Dresdners Carus zweiundreißig Aufsätze von ausgewiesenen Fachautoren aus den Bereichen Kunstgeschichte, Gemälderestaurierung, Medizin, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Geschichte, Literatur- und Musikwissenschaft.

Die eröffnenden Aufsätze des Sammelbandes umreißen und evaluieren die medizinisch-naturwissenschaftliche Tätigkeit von Carus, der in seinem Hauptberuf als Arzt auf eine 55-jährige Praxis zurückblicken konnte. Dabei ordnen Dietrich von Engelhardt und Caris-Petra Heidel in ihren Beiträgen scharfsichtig die innovativen Leistungen wie auch die neuralgischen Punkte des Werkes vor dem Horizont der Wissensformation um 1800-1850 ein. Carus blieb zeitlebens einem romantischen, synthetisierenden Wissenschaftsbegriff verhaftet. Vorstellungen der "Identität von Natur und Geist, Einheit der Natur, Verbindung von Natur und Kultur, Medizin als Wissenschaft und Kunst, Lebenskunst zugleich als Sterbekunst" (Engelhardt, 22) prägten sein Forschungsinteresse, wobei ihm Psychologie und Anthropologie in späteren Jahren besonders nahelagen. Er verfuhr dabei nach einer morphologisch-genetischen Methode mit deduktiven und analogisierenden Denkstrukturen, die entscheidende Anregungen von Goethe und Schelling erfuhr. Seine Bibliografie umfasst über siebzig selbständige Schriften. Heidel stellt in ihrer Untersuchung der Rezeptionsgeschichte klar: "Carus ehemalige Berühmtheit und aktuelle Resonanz sind also keineswegs [...] ausschließlich Ergebnis epochemachender wissenschaftlicher und praktischer Verdienste auf dem Feld der Medizin. Sie waren und sind vielmehr vor allem Resultat der von Carus repräsentierten Universalität. Diese [...] widerspiegelt sich vor allem in dessen [...] beeindruckenden literarischem Werk." (73)

Die aktuelle Virulenz der medizinischen Konzeption von Carus scheint in den Aufsätzen von Albrecht Scholz, Stefan Grosche und Werner Felber auf. Der Medizin-Professor Carus setzte im Arzt-Patienten-Verhältnis nicht allein auf Wissenschaft. Der individuelle Heilplan sollte nicht weniger als ein Kunstwerk sein. Kunst selbst war für ihn Therapie und Leben, welche sich im Begriff der "Lebenskunst" vollendete. In seiner gleichnamigen Schrift (Die Lebenskunst nach den Inschriften des Tempels zu Delphi, 1863) postulierte er daher in Anlehnung an antike Diätetik eine maßvolle und ausgewogene Form der gesamten Lebensführung zum "letzten Zweck eines recht menschlichen Daseins". Dass hier ebenso Parallelen zur freimaurerischen Lehre existieren, hat die Forschung bisher übersehen. [1] Neben den soliden beruflichen Qualifikationen führt die Historikerin Silke Marburger die Tätigkeit von Carus als Leibarzt des sächsischen Königshauses ab 1827 auch auf diesen Legitimationsbegriff der Kunst zurück (69).

Die folgenden Beiträge thematisieren Aspekte des Carus'schen Œuvres im künstlerischen, kunstpolitischen und kunsttheoretischen Spannungsfeld. Während Petra Kuhlmann-Hodick und Birgit Verwiebe die pikturalen Interferenzen in der Beziehung zwischen Carus und Caspar David Friedrich aufsuchen, verweisen Helmut Börsch-Supan und Hilmar Frank auf die wechselseitige Bespiegelung in deren Schriften. Verwiebe rekonstruiert für das in Essen befindliche Schweizer Hochgebirgsbild, das bisher als Kopie von Carus nach Friedrich galt, die komplizierte Zuschreibungsgeschichte und weist Carus' Autorschaft letztlich ab. Des Weiteren nimmt Werner Busch sich zwei aquarellierter Federzeichnungen an, die bislang als Belege für das mythologisch-geognostische Interesse des dilettierenden Künstlers galten. Busch kommt nach einer eingehenden Analyse zu der originellen, gleichwohl überzeugend vorgetragenen Hypothese, dass es sich der Funktion nach um Bühnenbildentwürfe handeln müsse. Henrik Karge weist in seinem Artikel wiederum auf bisher unbeachtet gebliebene zeitgenössische Rezeptionen von Carus einflussreichen Landschaftsbriefen (1831 und 1835) hin; und der von Hans-Günter Ottenberg präzise verfasste, musikwissenschaftliche Beitrag gibt erstmalig einen Überblick über das Thema Carus und die Musik.

Den Bogen zum naturwissenschaftlich-anthropologischen Wirken schlägt Olaf Breidbach. [2] Seine kritische Exegese verdeutlicht einerseits den Pioniercharakter der frühen zootomischen und anatomischen Schriften mit den bis heute faszinierenden Kupferstichtafeln von Carus. Sie belegt aber gleichzeitig dessen anthropozentrisches Weltbild (250, Abb.), auf dem er lebenslang in heftiger Ablehnung der Theorien Darwins beharrte. Vollends problematisch erweist sich Carus' Wissenschaftskonzeption in den mit Passion betriebenen cranioskopischen, physiognomischen und anthropologischen Studien, die zwischen Geniekult und Rassismus pendeln. Michael Hagner arbeitet präzise und überzeugend die Theorembildung und absurden Analogieschlüsse heraus. In seiner Anatomie der Differenzen verstieg sich Carus zu der Annahme von "Nacht-, Dämmerungs- und Tagvölkern" - wobei er sich natürlich den letzteren zugehörig fühlte. Dies verleitete schon Alexander von Humboldt, im Briefverkehr mit vertrauten Freunden ironisch von dem "Tagmenschen" Carus zu sprechen (305).

Wünschenswert wäre an dieser Stelle noch ein ergänzender Beitrag gewesen, der das mentalitätsgeschichtliche Dispositiv ausgeleuchtet hätte, vor dem Carus seinen in den anthropologischen Schriften entwickelten Exzellenzbegriff des menschlichen Geistes mit problematischen Kategorien sozialer Differenz, Distinktion, und Exklusion markiert hat. Dies ist umso bedauerlicher, da Studien zu diesem Themenkomplex bereits 2001 und 2002 vorgelegt [3] und im Vorwort verkündet wurde, "nach dessen [Carus] Einbindung in seine Zeit" (7) zu suchen. Ebenso hätte es den Band sicherlich bereichert, wenn der Wahldresdner als deutscher Phänotyp des "enzyklopädisch gebildeten Polyhistor" (276) von einer ausländischen Warte aus einer kritischen Begutachtung unterzogen worden wäre. Abschließend ist in nuce zu konstatieren, dass dennoch angesichts des aufgeworfenen Themenspektrums, ein ausreichend breites Fundament für die zukünftige Auseinandersetzung mit Carus gebildet wurde, so dass die vorliegende Publikation weithin zum zitierten Standardwerk werden wird. Darüber hinaus ist das von Bernhard Maaz angekündigte (307) Editionsprojekt des Carus-Regis-Briefwechsels als Option auf die Zukunft eine sehr zu begrüßende, kollegiale Dienstleistung.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Emil Strodthoff: Freimaurerei als Aufgabe. Hannoversch Münden 1948, 50: "Gnothi seauton! - Erkenne dich selbst! - steht über der Pforte des Delphischen Tempels, und es ist der Knüpfpunkt der freimaurerischen Lehre." [Kursivierung im Original].

[2] Breidbach hat aktuell einige der Schriften von Carl Gustav Carus neu herausgegeben, darunter die Neun Briefe über Landschaftsmalerei und die Autobiografie. Carl Gustav Carus: Gesammelte Schriften, 8 Bde., mit einer Einleitung hg. von Olaf Breidbach, Leipzig und Dresden 1818 bis 1931, Nachdruck Hildesheim 2009.

[3] Anja Häse: Carl Gustav Carus. Zur Konstruktion bürgerlicher Lebenskunst (= Arbeiten zur neueren deutschen Literatur, 7; zugl.: Diss. Univ. Dresden 2000), Dresden 2001; Anton Philipp Knittel: Zwischen Idylle und Tabu. Die Autobiographien von Carl Gustav Carus, Wilhelm von Kügelgen, und Ludwig Richter (= Arbeiten zur neueren deutschen Literatur, 15; zugl.: Diss. Univ. Tübingen 2000), Dresden 2002.

Heike Herber-Fries