Rezension über:

Viola B. Georgi / Rainer Ohliger (Hgg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2009, 253 S., ISBN 978-3-89684-336-4, EUR 16,00
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Rezension von:
Anne Hartung
Katholieke Universiteit Leuven
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Anne Hartung: Rezension von: Viola B. Georgi / Rainer Ohliger (Hgg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/16006.html


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Viola B. Georgi / Rainer Ohliger (Hgg.): Crossover Geschichte

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Der Sammelband "Crossover Geschichte" umfasst interessante und originäre Beiträge zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Dabei konzentriert er sich auf die identitätsstiftende Rolle dieser historischen Bezüge bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Dies ist allerdings alles, was das Buch bezüglich eines übergeordneten Zusammenhangs der 14 Beiträge preisgibt. Diese wurden in "theoretische Zugänge", einen biographischen Teil und Praxiserfahrungen gruppiert. Ausgangspunkt für alle drei Teile ist der Gedanke, dass die "hegemoniale Geschichte der Mehrheitsgesellschaft [...] in Einwanderungsgesellschaften nur eine Dimension von Geschichte [darstellt]" und dass die "Geschichte der Anderen und die vielfachen Verschränkungen, Verschmelzungen und Überkreuzungen von Geschichte (crossover) [...] meist nicht als Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur anerkannt [werden]." (10) Doch die auf historischem Wissen aufbauende Selbstverortung - so die Einleitung - geht mit gesellschaftlicher Partizipation einher.

Der erste Teil umfasst drei theoretische Aufsätze und drei empirische Analysen qualitativer Interviews. Neben dem einleitenden Plädoyer für interkulturelles Geschichtslernen von Bodo von Borries und Rainer Ohliger's abschliessendem Beitrag zur multiperspektivischen Geschichtsvermittlung, kritisiert Carlos Kölbl im Hinblick auf die Heterogenität der zu bezeichnenden Gruppe den Begriff "Migrationshintergrund" und zeigt unerschlossene Fragestellungen zum Geschichtsbewusstsein auf. Die erste qualitative Studie von Nevim Çil analysiert wie die türkische zweite Generation die Wiedervereinigung erfahren hat und sich dies auf die Zugehörigkeit zur deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgewirkte. Johannes Meyer-Hamme beschäftigt sich mit der Aushandlung von Identitäten im "Wechselspiel von kultureller Prägung, institutioneller Unterweisung und individueller Verarbeitung". Der Artikel schlussfolgert verschiedene Niveaus historischen Bewusstseins, die unterschiedliche Auswirkungen auf die Identitätsbildung haben. Während Viola B. Georgi die Erfahrungen junger Migranten mit der NS-Geschichte und dem Holocaust untersucht, werden gleichzeitig theoretische Versäumnisse aufgeholt. Zentrale Ideen der Identitätstheorie und der Aspekt der beidseitigen Integration vernachlässigen viele andere Beiträge im Buch. So nimmt dieser herausragende Beitrag beispielsweise die Bedeutung der (Annahmefähigkeit der) Aufnahmegesellschaft und der Interaktion zu ihr auf.

Dass im zweiten Teil "junge Menschen mit Migrationshintergrund zu Wort kommen" ist die Besonderheit des Buches. Die biographischen Reflexionen von Sergey Lagodinsky, Basil Kerski und den Preisträgern des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten "stehen nur für sich selbst" (155) ohne dass - abgesehen von den einleitenden Worten am Anfang des Buches - der Bezug zum Rest des Buches hergestellt wird. So bleiben die biographischen Essays nur illustrative Einzelerfahrungen, denen im Buch relativ viel Gewicht gegeben wird; und dies ohne zu beschreiben unter welchen Gesichtspunkten die Autoren selektiert worden sind. Welche Kriterien machen diese Einzelgeschichten für dieses Buch so bedeutsam? Reflektieren diese "typische Fälle"? Trotzdem geben diese Stimmen (voices) dem Buch die Authentizität, die das Buch von anderen Werken abhebt.

Der dritte Teil umfasst erfolgreiche Praxiserfahrungen, wie die des Jüdischen Museums in Berlin (Ufuk Topkara), eines Unterrichtsprojektes in Frankfurt/Main (Martin Liepach), des Konzeptes "Konfrontationen" des Fritz Bauer Instituts (Gottfried Kößler), der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Karoline Georg, Mirko Niehoff & Aycan Demirel) und eines Berliner Langzeitprojektes mit einer Studienreise nach Israel (Elke Gryglewski). Durch fehlende Abstraktion und Kopplung mit dem Rest des Buches wirkt dieser Teil leider oft berichtartig. Obschon die detailliert beschriebenen Projekte im Hinblick auf das Thema höchst interessant sind, wurde deren Lernpotenzial nicht ausgeschöpft, da die Texte zu selten mit analytischen Schlussfolgerungen, systematischen Empfehlungen oder gar theoretischen Bezügen bereichert sind. Dadurch scheint dieser Teil vereinzelt sehr subjektive Eindrücke widerzuspiegeln. Die Texte von Karoline Georg, Mirko Niehoff und Aycan Demirel und von Gottfried Kößler ragen im Licht dieser Kritik positiv heraus - sie haben einen klareren Bezug zum ersten Teil des Buches, diskutieren kritisch unterschiedliche Ansätze. Gottfried Kößler's hervorragender Beitrag bringt viele der vorher angesprochenen Punkte wieder zusammen, benennt konkrete Defizite und nimmt auf diese Weise die fehlende Abschlussdiskussion vorweg.

Lehrer und Museumspädagogen ansprechend, überbrückt das zugänglich aufbereitete Buch die Kluft zwischen akademischer und praxisorientierter Literatur. Diese Eigenschaft wird dem Sammelband allerdings mehr als einmal zum Verhängnis. Vermisst man generell eine Synergie der Einzelbeiträge und theoretischen Tiefgang sowie methodologische Hintergrundinformationen im ersten Teil, wird die Geduld mit im dritten Teil mit detaillierten Projektbeschreibungen etwas überstrapaziert. Gehäufte Wiederholungen einzelner Argumente (Notwendigkeit der Multiperspektivität, Heterogenität des "Migrationshintergrundes", etc.) verstärken zwar die Konsistenz der normativen Botschaft des Buches, aber andererseits wurden dadurch andere essentielle Aspekte vernachlässigt. Es stellen sich schon nach der Einleitung eine Reihe von Fragen, die leider meist erst spät oder gar nicht im Verlauf des Buches besprochen werden: Wie hängen Geschichtserfahrungen und Identitätsbildung theoretisch zusammen? Dass Geschichte einen Teil von Identität ausmacht, wird ex ante angenommen und in den ersten Kapiteln nicht diskutiert. Darüber hinaus widerspricht Ufuk Topkara sogar dieser These: "Deutsche Geschichte spielt für die meisten bei der Suche nach der Identität und gesellschaftlicher Stellung keine oder nur eine sehr marginale Rolle." (188) Wie können die Ergebnisse vom Blickwinkel der Identitäts- und Ethnizitätsforschung lokalisiert werden? Viel zu wenig wird auf fachspezifische Konzepte wie boundaries, die Kontextualität von Identitäten, hyphenated und multiple Identitäten eingegangen. Welche anderen bedeutsamen Dimensionen gibt es bei der Identitätsbildung, und können diese von der historischen Dimension abgegrenzt werden? Wie wird zum Beispiel das Verhältnis von Geschichte und Kultur in Bezug auf die Formung der Identität gesehen? Lassen sich klassen- von ethno-spezifischen Phänomänen differenzieren? Und grundsätzlich: Macht es überhaupt Sinn bei Identitätsfragen das Konzept "Migrationshintergrund" anzuwenden? In dieser Hinsicht wird der Band seinen Anforderungen nicht wirklich gerecht.

Zusammenfassend ist "Crossover Geschichte" zwar keine klassische akademische Monographie aber eine Sammlung von wertvollen Einzelbeiträgen über Geschichtsverständnis und dessen Rolle bei der Identitätsbildung. Darüber hinaus ist es trotz der eher flüchtigen Abhandlung verschiedener Kernthemen und Wiederholungen anderseits ein gelungenes Lesebuch, in dem man beim Durchstöbern Skizzen einschlägiger Theorien, interessante biographische Abrisse und innovative Praxiserfahrungen finden wird, die mit ihrer Fürsprache für interkulturelle Geschichtsvermittlung so direkt ausgesprochen ein unverzichtbarer Beitrag sind, um in diesem Bereich der Einwanderungsgesellschaft zukünftig gerecht(er) zu werden.

Anne Hartung