Rezension über:

Daniel Kirn: Soldatenleben in Württemberg 1871-1914. Zur Sozialgeschichte des deutschen Militärs (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 46), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, 369 S., ISBN 978-3-506-76592-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Richard Kühl
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Richard Kühl: Rezension von: Daniel Kirn: Soldatenleben in Württemberg 1871-1914. Zur Sozialgeschichte des deutschen Militärs, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/14670.html


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Daniel Kirn: Soldatenleben in Württemberg 1871-1914

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"Unter Wilhelm Zwo war es gar nicht so" - unter diese Überschrift stellte vor wenigen Jahren der Wissenschaftsjournalist Tilman Krause in der "Welt" ein Resümee zur jüngeren sozialgeschichtlichen Forschung über das Wilhelminische Deutschland. [1] Viel komplexer, freizügiger, liberaler, "moderner" habe sich, so Krause vor allem auf den Sozialhistoriker Joachim Radkau rekurrierend, das gesellschaftliche Leben im Deutschland der Jahrhundertwende entfaltet. Tatsächlich lässt sich auch an anderen Beispielen, man denke etwa an die Arbeiten Dagmar Herzogs zur Sexualgeschichte [2], aufzeigen, dass sich der Blick für die Nuancen hinter den Klischeebildern einer militaristischen Gesellschaft geschärft hat.

Der Stuttgarter Historiker Daniel Kirn hat nun mit seiner Dissertation über Soldatenalltag in Württemberg zwischen 1871 und 1914 eine Studie vorlegt, die danach fragt, inwiefern auch das tradierte Bild von der Armee selbst als einer von Militarismus und Imperialismus durchdrungenen Institution nicht korrekturbedürftig sei, gerade mit Blick auf die Masse der einfachen Soldaten. Kirns Interesse gilt den Signaturen, die in diesem Zeitraum die technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierungen in der Mentalität der dienstverpflichteten Rekruten hinterließen. Dieser Ansatz ist in doppelter Hinsicht innovativ. Zum einen standen bislang in militärhistorischen Studien zur Friedenszeit zumeist die Offiziere, nicht aber die Mannschaften im Fokus. Zum anderen geht Kirn Fragen nach, deren Relevanz für die mentalitätshistorische Erforschung der Vorkriegszeit, aber auch für die Weltkriegsforschung selbst auf der Hand liegt, die aber bislang kaum in den Blickpunkt gelangt sind: Welche politischen und ideellen Wechselbeziehungen zwischen Militär und Gesellschaft präsentieren sich vor dem Weltkrieg als signifikant? Inwiefern gelang es dem Militär, seine Wert- und Normvorstellungen in die Gesellschaft zu transportieren? In welchem Maße waren oder wurden die einfachen Soldaten in ihrer Militärdienstzeit im militaristischen Sinne politisiert? Welche Rolle spielte dies und die Armee als Erlebniswelt im späteren Zivilleben?

Kirn hat sich diesen Fragestellungen am Beispiel des königlich württembergischen XIII. Armeekorps gewidmet. Diese Wahl war nicht nur der vergleichsweise günstigen Quellensituation im Hauptstaatsarchiv Stuttgart geschuldet, sondern auch dem Reiz der Sonderstellung dieses Armeekorps. Es fiel unter den Etat Preußens, unterstand aber dem württembergischen König.

Der erste, eher deskriptiv gehaltene Teil des Buches umreißt allgemeine Stationen des zweijährigen Militärdienstes von der Musterung über die militärische Ausbildung bis zur Entlassung. Ein zweiter untersucht grundlegende Charakteristika des Alltags der einfachen Soldaten: Misshandlungen durch Vorgesetzte, die Verpflegung, das (Selbst-)Bild des Soldaten im Kontakt mit der zivilen Welt, die Anbindung an Kriegervereine, der Umgang mit der Sozialdemokratie stehen hier im Vordergrund. All dies wird für Württemberg erstmals detailliert nachgezeichnet und bietet immer wieder überraschende Ergebnisse: So wird konzise auf der Folie der von Benjamin Ziemann benannten Merkmale des Militarismus im Wilhelminischen Deutschland herausgearbeitet, dass diese sich schwerlich auf das württembergische Armeekorps übertragen lassen. Insbesondere galt der Masse der Rekruten das Militär keineswegs als eine Institution, die für sie mit besonderem Sozialprestige verbunden gewesen wäre. Der als eintönig erlebte Dienst wurde vielmehr als geduldig zu ertragende Notwendigkeit empfunden, die nur in den wenigsten Fällen eine über die Dienstzeit hinausgehende Bindung an das Militär zur Folge gehabt hätte. Auch die Funktion als einheitsstiftende "Schule der Nation" habe das Armeekorps kaum erfüllt, wie Kirn dies anhand der Marginalität politischen Unterrichts in der militärischen Ausbildung, aber auch an der spezifischen militärischen Festkultur in Württemberg aufzeigt. Die Soldaten hätten sich in erster Linie dem Regiment, dann dem Königreich und erst an dritter Stelle der deutschen Armee verpflichtet gefühlt. Bemerkenswert ist insgesamt, in welch geringem Maße das Politische in den Militärdienst hineinwirkte. So waren auch die Spannungen zwischen Militär und Sozialdemokratie keineswegs vergleichbar mit der Situation in Preußen. Vielmehr hätten die Behörden, die sich der konservativen Dominanz in der Armee bewusst waren, eine eher besonnene Form des Umgangs gefunden. Relativ unbehelligt habe sich daher sozialdemokratische Agitation entfalten können.

Liefert Daniel Kirn somit durchaus überraschende Einblicke in das Innenleben der württembergischen Armee, kann die Arbeit dort nicht ganz überzeugen, wo offen bleibende Fragen gelegentlich dahingehend interpretiert werden, sie hätten eben keine oder kaum eine Rolle im Alltag der Soldaten gespielt. Da beispielsweise in den Militärakten so gut wie keine Hinweise auf die Situation homosexueller Soldaten auffindbar waren, sei es, so Kirn, schwer einzuschätzen, inwiefern in Württemberg unter Mannschaften und Offizieren Homosexualität überhaupt ein Thema war. Hier freilich hätte dem Autor mit den "Monatsberichten des Wissenschaftlich-humanitären Komitees" eine Quelle ersten Ranges zur Verfügung gestanden, wurden in diesem Periodikum doch akribisch und zudem reichsweit Betroffenberichte, Zeitungsartikel und weitere Materialien ediert. Misshandlungen und Erpressungen waren herausgehobene Themen, die in Kirns Arbeit in Bezug auf homosexuelle Soldaten nicht vorkommen. Aber auch, dass das Fehlen nennenswerter Hinweise auf den Stellenwert der "Kameradschaft", so Kirn, "belegt", dass diese für die einfachen Soldaten "nicht wichtig" (22) gewesen wäre, ist so formuliert gewiss fraglich. Es lässt sich an beiden Beispielen vielmehr ein Grundproblem des eruierten Quellenfundus' festmachen: Ego-Dokumente, mit denen sich die unmittelbare Perspektive der Soldaten hätte einfangen lassen (Briefe, Tagebücher, Erinnerungen), lagen für die Untersuchung nur in geringem Umfang vor. Neben einigen Bildpostkarten und einem Tagebuch konnten nicht viel mehr als gewöhnliche Reservistika, ferner vereinzelte Aussagen aus militärischen Disziplinarverfahren herangezogen werden. So wird auch über weite Strecken der Untersuchung der Alltag weniger aus dem Blickwinkel der Betroffenen eingefangen, sondern vielmehr die Organisation dieses Alltags durch das Militär rekonstruiert. Nicht nur Rückschlüsse zum Stellenwert der "Kameradschaft" sind somit problematisch. Auch die als zentral für das Erkenntnisinteresse der Arbeit aufgeworfene Frage nach den Spuren der militärischen Dienstzeit im weiteren Zivilleben kann, wie am Ende mit Verweis auf die Quellen auch eingeräumt wird, nur bruchstückhaft beantwortet werden.

Bei diesen Kritikpunkten sei zugleich betont, dass sich die Studie auf ein Feld vorgewagt hat, das in vielerlei Hinsicht historiografisch noch der Entdeckung harrt. Hier liefert die Pionierstudie von Daniel Kirn am Beispiel Württembergs bereits unbedingt beachtenswerte Korrekturen zum Bild von der Masse der einfachen Soldaten vor 1914. Dass dies ebenso wie die eminent wichtigen Fragen, die die Untersuchung zum Ausgangspunkt nimmt, einen Anstoß für weitergehende Forschungen gibt, wäre überaus wünschwert.


Anmerkungen:

[1] Tilman Krause: Unter Wilhelm Zwo war es gar nicht so, in: Die Welt vom 27.5.2006.

[2] Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005.

Richard Kühl