Rezension über:

Daniel Siemens: Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919-1933 (= Transatlantische Historische Studien; Bd. 32), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 444 S., ISBN 978-3-515-09008-7, EUR 54,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Sabine Freitag
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Freitag: Rezension von: Daniel Siemens: Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919-1933, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/14123.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Daniel Siemens: Metropole und Verbrechen

Textgröße: A A A

In Anlehnung an Emil Durkheims Diktum, dass das Reden (und Lesen) über Kriminalität zur Bestätigung und Wiederherstellung, aber auch zur notwendigen Revision und Anpassung gesellschaftlicher Normen und Werte beiträgt, untersucht Daniel Siemens die Mechanismen dieser Stabilisierungs- und Ordnungsfunktion anhand von Gerichtsreportagen in drei Metropolen - Berlin, Paris und Chicago. Im Mittelpunkt dieses anspruchsvollen und beeindruckenden Vergleichs steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Justiz.

Da Gerichtsreportagen ein relativ neues Genre waren, das erst nach dem Ersten Weltkrieg zum festen Bestandteil der Tagespresse wurde, setzt die Untersuchung mit dem Jahr 1919 ein. Die Öffentlichkeit von Strafverfahren und die Hochzeit der Massenpresse bildeten gute Voraussetzungen für den Einsatz professioneller Gerichtsreporter, die durch die spezifische Form ihrer Berichterstattung - eine Art "symbolisch-rituelle Inszenierung von Justiz" (43) - die knappen Mitteilungen über Prozessverlauf und Strafmaß in der herkömmlichen Rubrik "Neues aus dem Gerichtssaal" weit übertrafen. Obwohl 1933 streng genommen nur für Deutschland eine wichtige politische Zäsur darstellte, setzt der Autor mit diesem Jahr den Endpunkt seiner Studie. Durch das neue politische System veränderte sich auch die Rechtsprechung, und die Berliner Justiz war nicht mehr länger wie die Pariser und Chicagoer in einem republikanischen Regierungssystem verankert. Die akribisch recherchierte, überzeugend aufgebaute und gut lesbare Studie konzentriert sich angesichts der Fülle von Quellenmaterial auf ausgewählte Kriminalprozesse der sogenannten Qualitätspresse mit hoher Auflage. Wie die Vielfalt an aufschlussreichen Informationen und Ergebnissen zeigt, kann der Autor dabei getrost auf die Diskussion ausgefeilter medien- oder kommunikationstheoretischer Konzepte (Stichwort: Medien und Öffentlichkeit) verzichten (36).

Nach der Einführung in die historische Entwicklung der Gerichtsreportage als einer speziellen journalistischen Gattung mit besonderen Auflagen und Beschränkungen, aber auch einer eigenen Logik (Kap. II), beleuchtet Kapitel III das Verhältnis von Presse respektive Öffentlichkeit und Justiz. Trotz aller Unterschiede in ihren Rechtskulturen ließ sich in allen drei Metropolen eine allgemeine Akzeptanz der Justiz durch die Presse beobachten. Zugleich aber nahm die Mediatisierung des Rechts offenkundig zu, ablesbar an einer kritischen Öffentlichkeit, die die Arbeit der Justiz immer selbstverständlicher beurteilte. Zwar verlor weder in Berlin, noch in Paris oder Chicago in den zwanziger Jahren die Justiz ihre Deutungshoheit über Recht und Unrecht, Leben und Tod, sie musste ihre Entscheidungen aber deutlich "aufwendiger als zuvor begründen" (388). Während die "Vertrauenskrise in die Justiz", die immer auch auf eine politische Krise hindeutet, in Berlin generell eher in einem Streit um Rechtsnormen und ihre Auslegung zum Ausdruck kam, äußerte sie sich in Chicago stärker im Vorwurf ihrer zu großen Nachsichtigkeit und Milde gegenüber der organisierten Kriminalität. Die Presse forderte hier eine entschlossene Law-and-order-Politik. In Paris wiederum spielte Kriminalität in den Medien bis in die Mitte der zwanziger Jahre hinein keine mit Berlin oder Chicago vergleichbare Rolle. Die Problematisierung von Kriminalität schien auf Eis gelegt. Politisch ging es in Frankreich direkt nach dem Krieg, laut Siemens, vor allem um die Aufrechterhaltung einer heiligen Gemeinschaft (union sacrée), um die Beschwörung einer gerade nicht ausgrenzenden "Normalgesellschaft" (385). In diesem Klima wurde die französische Justiz als wesentliche Stütze der dritten Republik angesehen.

Das interessante vierte Kapitel fragt nach dem Einfluss kriminologischer, d.h. hier primär psychiatrischer und eugenischer Spezialdiskurse auf die Alltagsdiskurse der Massenmedien. Hat die Öffentlichkeit die wissenschaftlichen Deutungsangebote überhaupt rezipiert? Wenn ja, haben diese Spezialdiskurse die Öffentlichkeit in ihrer Kriminalitätswahrnehmung beeinflusst? Siemens weist nach, dass dem eher nicht so war. Die mit Blick auf die deutsche Entwicklung nach 1933 bislang gepflegte Vermutung, die Berliner Presse habe bereits früh eine besondere Affinität zu biologistischen Erklärungsangeboten erkennen lassen, kann er eindrucksvoll widerlegen und damit auch ein Detail der Sonderwegsdebatte revidieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, widersetzten sich die deutschen Reporter wie ihre französischen Kollegen den Wertungen der eher deterministisch argumentierenden Gerichtsmediziner und zogen es vor, mehr umwelt- und milieuorientiert zu argumentieren und den Angeklagten als Opfer der gesellschaftlichen Umstände zu beschreiben. Erst in den späten zwanziger Jahren ließ sich eine Radikalisierung der Erklärungsmuster in den Gerichtsreportagen beobachten. In Chicago verhielt es sich genau umgekehrt. Hier zeigten die Gerichtsreportagen zunächst eine deutliche Affinität zu biologistischen Erklärungen, die Siemens mit dem Einfluss des Psychopathologischen Instituts des Eugenikers Harry Olson und der Desillusionierung des Progressive Movement durch die Zunahme der organisierten Kriminalität in Chicago erklärt. Das deviante Verhalten der Angeklagten wurde auch von den Gerichtsreportern öfter als anlagebedingte Fehlleistung gedeutet. Gegen Ende der zwanziger Jahre schwächte sich diese Argumentationsfigur aber wieder ab und Zweifel an der modernen Gerichtspsychiatrie wurden laut. In den Pariser Gerichtsberichterstattungen ließen sich schließlich kaum Einflüsse einer radikalen Kriminologie nachweisen. Eine Neubewertung des Straftäters durch die Spezialdiskurse lehnten die französischen Journalisten offensichtlich ab. Zeitgenössische Enthüllungen über die Missstände in französischen psychiatrischen Kliniken könnten, so der Autor, zu dieser Skepsis beigetragen haben.

Daniel Siemens deutet den Befund, dass wissenschaftliche Spezialdiskurse offensichtlich nur schwach in Gerichtsreportagen ihren Niederschlag gefunden haben, und umgekehrt "die Interdiskurse der Tageszeitungen für die politische Entscheidungsfindung kaum relevant waren" (385), mit der "Eigenlogik politischer Systeme". Im Grunde reiche, so sein Argument, eine von der Presse offensichtlich unabhängige und unberührte starke Koalition aus Politikern, Technokraten und Wissenschaftlern aus, um eine bestimmte, politisch als notwendig erachtete Kriminalpolitik entwerfen und effizient umsetzen zu können.

Das von Siemens konstatierte Desinteresse der Journalisten an kriminologischen Theorien lässt sich freilich auch mit dem Genre selbst erklären. Wie die Kapitel fünf und sechs über sensationelle Mordprozesse (Krantz, Leopold-Loeb, die Schwestern Papin) und Verbrechen aus Leidenschaft demonstrieren, mussten die Gerichtsreporter, die sich in erster Linie als "Chronisten" (390) verstanden, vor allem dem Unterhaltungsbedürfnis der Leserschaft Rechnung tragen. Die Inszenierung menschlicher Dramen, die Darstellung der Sorgen und Nöte der Angeklagten, berührten und bewegten die Leser und Leserinnen, die sich in vielen der beschriebenen Konflikte durchaus wiederzuerkennen vermochten. Die Verhandlungen im Gerichtssaal gerieten so zu einer Art Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Verhältnisse, die die Auseinandersetzungen über Geschlechterrollen und Sexualverhalten mit einschloss und insgesamt die Ängste und Unsicherheiten, die ein beschleunigter Modernisierungsprozess heraufbeschwor, widerspiegelte.

Doch fanden bei alledem wissenschaftliche Erklärungsangebote für menschliches (Fehl-)Verhalten tatsächlich keinen Widerhall in den Gerichtsreportagen? Sieht man nur, wie Siemens, auf die forensische Psychiatrie, mag man zu diesem Schluss kommen. Man sollte aber vielleicht bedenken, dass gerade nach dem Ersten Weltkrieg diese Disziplin - trotz des Profilierungsbestrebens ihrer Vertreter, über ihre Gutachtertätigkeiten im Gerichtssaal den Status ihrer Profession zu erhöhen - nicht mehr die einzige Stichwortgeberin im wissenschaftlichen Diskurs über die Ursachen von Kriminalität und die konstitutionellen Grundlagen des Straftäters war. Die empirische Sozialforschung, die aufsteigende Soziologie (u.a. urban studies), die experimentelle und angewandte Psychologie (u.a. Intelligenztests, educational psychology), aber auch die Pädagogik und - wenn auch zunächst marginal - die Psychoanalyse meldeten sich zu Wort und fanden - je nach gesellschaftlicher und politischer Konstellation - immer mehr Gehör. Das in diesen Bereichen produzierte Wissen war durchaus alltags- und gerichtstauglich und - vielleicht mit Ausnahme der Intelligenzforschung - stark milieuorientiert.

Sabine Freitag