Eduard Führ / Anna Teut (Hgg.): David Gilly. Erneuerer der Baukultur, Münster: Waxmann 2008, 191 S., ISBN 978-3-8309-2054-0, EUR 28,00
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David Gilly hatte 2008 einen relativ unbemerkten 200. Todestag (und 260. Geburtstag), ihm wurde keine Briefmarke gewidmet wie Carl Gottfried Langhans zu seinem 200. Todestag im gleichen Jahr - die dieser auch nur dem Bau des Brandenburger Tores verdankte. Beide gehören zur Gruppe der preußischen Architekten des frühen Klassizismus, die Karl Friedrich Schinkel und seine Generation vorbereitet (und auch unterrichtet) haben, durch sie aber im Rückblick verdeckt wurden. Die einzige Monografie zu David Gilly von Marlies Lammert ist vor nunmehr bereits 50 Jahren verfasst worden. [1]
Zur Bautätigkeit im 18. Jahrhundert gehörte neben der 'Prachtbaukunst', die weniger repräsentative, staatspolitisch jedoch insgesamt bedeutsamere 'Landbaukunst'. Weite Teile Preußens, insbesondere die nach den polnischen Teilungen neu hinzugekommenen Gebiete mussten erschlossen werden. Mit den Maßnahmen dazu, also mit Vermessungen, Kartierungen, dem Bau von Straßen, Brücken, Kanälen und Deichen, Entwürfen von Wohnhäusern und Amtsgebäuden für neue Siedlungen war Gilly in seinen ersten 26 Berufsjahren beschäftigt (er trat bereits im Alter von 14 Jahren in den Baudienst ein). In welch komplexe historiografische Fragen eine Untersuchung der, zumindest bis zu David Blackbourns Studie über die Nutzbarmachung der "Natur" in Deutschland eher unterschätzten, Arbeiten zur Trockenlegung von Sumpfgebieten führen kann [2], zeigt sich am interessantesten Aufsatz des Bandes. Simone Hain verbindet Quellenauswertung mit der Diskussion ästhetikgeschichtlicher Fragen. Sie berichtet von den ersten Lehrjahren Gillys, die er bei den Meliorationsarbeiten im Warthebruch verbrachte. Die Entvölkerung der Neumark durch den Siebenjährigen Krieg hatte eine vorschnell und riskant betriebene Siedlungspolitik Friedrichs II. zur Folge. Die im Warthebruch unter der Leitung des Mentors des jungen David Gilly, Franz Balthasar Schönberg von Brenkenhoff, schlecht organisierte Durchführung der Arbeiten führte zu Verelendung und vielfachem Tod der angeworbenen Siedler. Mit aus Quellen belegter Drastik beschreibt Hain, was falsch lief. Gilly konnte Ursachen und Wirkungen des Desasters aus der Nähe beobachten und lernte dadurch viele Fehler zu vermeiden, als er kurz darauf als Baubeamter selbst Verantwortung übernahm. Aus solch elementaren Erfahrungen mit misslungener staatlicher Reglementierung erklärt Hain den Willen zur aufklärerischen Verbesserung, dem sich insbesondere das preußische Beamtentum verpflichtete. Hain legt auch nahe, den Stilwandel vom Rokoko zum Klassizismus, den sie u.a. an der Typografie zeitgenössischer Publikationen über den Skandal im Warthebruch beobachtet, mit diesen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Die funktionalen Formen in Typografrie, Kunsthandwerk und Architektur des Klassizismus hätten dieselbe Wurzel wie die Verwaltungsreform in Preußen, nämlich ein aus der Erkenntnis gefährlicher Defizite geborenes Streben nach Effizienz und Transparenz. Diese These ist keineswegs neu, sie findet sich ähnlich schon bei Lammert, wenn auch in der damals vorgeschriebenen Diktion formuliert, wird hier aber durch die Einlassung auf ein einschneidendes Ereignis untermauert.
Die Spannweite der Fragestellung Hains bringen die meisten anderen, informativen und einander gut ergänzenden Beiträge im Band nicht auf, sondern bleiben eng an ihren jeweiligen Themen: Die Ausführungen zu den Erschließungsarbeiten im östlichen Preußen ergänzt der Aufsatz von Bernhard Ritter, der sich mit den von Gilly anlässlich der Arbeiten im Warthe- und Netzebruch eingeführten Mess- und Darstellungsverfahren zur Kartografie beschäftigt. Mit den stadtplanerischen Arbeiten Gillys auf den ehemals polnischen Gebieten beschäftigt sich Tadeusz J. Żuchowski und beschreibt ausführlich Planung und Einzelbauten für die Stadterweiterungen in Posen, Plock, Kalisch und Marienwerder.
Vor diese und weitere Beiträge zu den einzelnen Tätigkeitsfeldern Gillys sind drei Aufsätze gestellt, die eine Art theoretische Einleitung bilden. Michael Bollé zeichnet in seinem Beitrag zur Forschungsgeschichte zu David Gilly nach, wie immer wieder von 'niedrigen' Bauaufgaben der Landbaukunst auf einen 'niedrigen' Grad der Anforderungen geschlossen und Gilly deshalb als Architekt unterschätzt wurde. Er bedauert den Mangel an Quellen zu vielen Bauten Gillys, der dazu zwingt, Zuschreibungen ausschließlich stilkritisch zu begründen. An Beispiel des Vieweg-Hauses in Braunschweig zeigt Bollé eindrücklich, wie die Unterschätzung des Architekten dazu führte, dass viele Autoren die von Lammert vorgenommene Zuschreibung an Gilly senior als Entwerfer dieses prominenten Baus ablehnten. Bollé betont, dass die Urheberschaft nicht geklärt ist. In das Verzeichnis der Werke Gillys am Ende des Bandes ist das Haus aber kommentarlos aufgenommen.
Gilly als Autor architekturtheoretischer und -praktischer Texte und gut unterrichteter Kommentator des internationalen Baugeschehens wird von Klaus Jan Philipp vorgestellt. Bollé und Philipp, ebenso wie etliche andere Autoren des Bandes bringen in ihren Beiträgen Friedrich Gilly nicht nur als Schüler und Mitarbeiter seines Vaters ins Spiel, sondern vergleichen beide. Wenn das auch nur nebenbei und in verdeutlichender Absicht geschieht, führt es mehrfach zu apologetischen Formulierungen, die den pragmatisch operierenden Vater gegen den hochinspirierten Sohn verteidigen, von denen ansonsten behauptet wird, sie seien nicht mehr nötig. Umso erfreulicher ist es, dass Ulrich Reinisch wichtige Informationen über die Arbeitsweise und Stiltheorie der Architekten am für den Landbau zuständigen Oberbaudepartement zusammenträgt, indem er den Vergleich nicht zwischen den Generationen zieht, sondern viel erhellender zwischen zwei Architekten, die auf gleicher Ebene zusammenarbeiteten, nämlich Gilly und François Philipp Berson.
Der Band wird durch ein Werkverzeichnis, ein Verzeichnis der Schriften Gillys und einer Bibliografie der Sekundärliteratur ergänzt. Im "vorläufigen", auf Sekundarliteratur beruhenden Werkverzeichnis stört eine ärgerliche Nachlässigkeit: Zu einzelnen Bauten werden Quellenangaben gemacht, bei den von Lammert abgeschriebenen Angaben wird als Aufbewahrungsort das Deutsche Zentralarchiv Merseburg genannt. Allerdings gelangten die von Lammert seinerzeit dort eingesehenen Akten bereits 1993/94 wieder ins Berliner Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. So oder so nützt die Angabe eines Archivnamens nichts ohne den Nachweis von Aktentiteln und -signaturen, die bei Lammert in den Anmerkungen genau angegeben sind, aber leider nicht übernommen wurden.
Insgesamt bringt der Sammelband viele neue Einzelergebnisse, macht aber trotz inhaltlicher Kohärenz einen etwas zerstreuten Gesamteindruck. Der Rang David Gillys als laut Titel des Bandes "Erneuerer" einer "Baukultur", die Eduard Führ mit Verweis auf ein neuerdings wieder angestrebtes ganzheitliches Verständnis von Bauen bei Gilly vorgeformt wissen will, wird aus den zusammengefügten Facetten nicht deutlich genug. Eine weitere konzentrierte Auseinandersetzung mit David Gilly, die sich direkt auf die Eigenart der von ihm gewählten Bauaufgaben bezieht, bleibt eine wichtige und reizvolle Aufgabe im Rahmen der Architekturgeschichte des frühen deutschen Klassizismus.
Anmerkungen:
[1] Marlies Lammert: David Gilly. Ein Baumeister des deutschen Klassizismus. 2. unveränderte Auflage (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin; Beiheft 6), Berlin 1981. 1. Aufl. Berlin-DDR 1964 (Diss. Uni Greifswald 1959).
[2] David Blackbourn: The conquest of nature. Water, landscape and the making of modern Germany, London 2007. dt. Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007.
Claudia Sedlarz