Ekaterini Kepetzis: Vergegenwärtigte Antike. Studien zur Gattungsüberschreitung in der französischen und englischen Malerei (1840-1914), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 367 S., ISBN 978-3-631-58124-7, EUR 56,50
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Es ist ein typischer Sonntagmorgen. Das Wetter ist grau und regnerisch, die Zeitung liegt auf dem Tisch, die Kaffeetasse dampft, und ich schlage gemütlich das Feuilleton auf. [1] Und plötzlich ist gar nichts mehr typisch, denn was hier auf der ersten Seite prangt, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Wir sehen uns einer in üppigem Satin gekleideten Jane Grey gegenüber, die sich hilflos dem Block entgegentastet, auf dem ihr Haupt in wenigen Minuten vom Rumpf abgetrennt werden wird. Während ihre Hofdamen in entkräfteter Trauer die Augen vor dem tragischen Moment des unausweichlichen Endes verschließen, schaut ein irritierend attraktiver Henker mit einem überraschenden Hauch von Mitleid auf sein zukünftiges Opfer. Alles in diesem Bild ist monumentale Gegenwärtigkeit, ein Schwelgen in Stofflichkeit und farbiger Opulenz, ein detailverliebter Schnappschuss jenes höchst emotionalen Moments, der vor dem eigentlichen Ereignis liegt. Aber nichts in diesem Bild, das Paul Delaroche 1833 auf dem Salon erstmals zeigte, gehorcht den Mechanismen der Avantgarde, welche die Kunstgeschichte für mehr als ein halbes Jahrhundert als Qualitätsmerkmal moderner Kunst gefeiert hat. Mit seinem ganzseitigen Artikel über die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts verabschiedet sich Niklas Maak nun emphatisch von dieser Feier, die zur ritualisierten Monotonie geworden ist. Ermüdet von "der automatisierten Endlosschleife der besten Avantgardehits" ehrt der Kritiker das noch kürzlich als Kitsch Verdammte mit dem provokativen Titel "Die wahren Modernen".
Salonmalerei als wahre Moderne - noch vor einem Jahrzehnt wäre eine solche These im Feuilleton einer bedeutsamen Tageszeitung kaum denkbar gewesen. Mit der farbenprächtigen Präsentation von Delaroches "Jane Grey" tritt somit ein umfangreicher Revisionsprozess ins Schlaglicht der breiten Öffentlichkeit, der den Begriff der Moderne - und damit auch die gängigen Erklärungsmuster der Kunst des 19. Jahrhunderts - entscheidend ins Wanken gebracht hat. [2] Bei dieser Revision geht es keineswegs um eine unkritische Aufwertung des ehemals Populären als neue Götterwelt im Olymp einer avantgardistischen Moderne. Auf dem Spiel steht vielmehr, wie die Studie von Ekaterini Kepetzis zur "Vergegenwärtigten Antike" vor Augen führt, ein nuancierteres Verständnis eben dieser Moderne selbst. Der Weg zu einem solchen Verständnis bedingt jedoch neue Instrumentarien der Beurteilung, und die Entwicklung eines kunsthistorischen Apparats ist eben das Ziel von Kepetzis' Analyse der "Gattungsüberschreitung in der französischen und englischen Malerei (1840-1914)".
Wie die Autorin zu Recht konstatiert, hat sich der bisherige Versuch, die akademische Kunst durch eine Parallelisierung von deren formalen Neuerungen mit den Strategien der Avantgarde-Malerei zu rehabilitieren, weitgehend als Sackgasse erwiesen. "Eine solche Betrachtungsweise führt nicht zu brauchbaren kunsthistorischen Ergebnissen. Konsequenterweise verzichtet die vorliegende Studie auf eine vergleichende Konfrontation von 'Akademiemalerei' und 'Avantgarde'. Vielmehr müssen diese als zwei zeitgleiche, aber weitgehend autonome Phänomene in der zweiten Jahrhunderthälfte anerkannt werden." (31) Richtungsweisend für diesen Ansatz ist Ernst Blochs zentrale These der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", die schon seit langem andere historische Disziplinen grundlegend beeinflusst hat. Die Kunstgeschichte hingegen tut sich mit solch einer historischen Sicht schwer, da sie, zwischen Geschichtswissenschaft und Kunstkritik schwankend, immer wieder über die schlüpfrige Frage von Qualität und Geschmack stolpert und die eigenen, zeitgenössischen Paradigmen immer wieder auf die Vergangenheit projiziert. In diesem Sinne wagt Kepetzis einen schwierigen Balanceakt, wenn sie sich nicht auf das Argument der zeithistorischen Relevanz ihres Materials zurückzieht, sondern auf der ästhetischen Dimension der behandelten Objekte insistiert.
Kepetzis' Hauptthese ist ebenso stringent argumentiert wie provokativ. Die Zersetzung akademischer Prinzipien erfolgte nicht nur von Außen durch den Angriff der Avantgarde. Ebenso wichtig war die Auflösung etablierter Wertehierarchien von Innen heraus, aus dem Zentrum des Salons, wo die nicht-akademischen Akademiebilder von Malern wie Jean-Leon Gérôme oder Lawrence Alma-Tadema Triumphe feierten. Kepetzis Fokussierung auf die Antike ist insofern besonders fruchtbar als eben die Antike - im Gegensatz zu Mittelalter oder Zeitgeschichte - traditionell eine zentrale Rolle in der Definition jener Kategorie eingenommen hatte, welche die akademische Gattungshierarchie seit den Tagen Félebiens anführte: der Historienmalerei. Deren Grundlagen wurden nun durch den neuen Bildtyp des antikischen Genrebilds (oder, um genauer zu sein, dem "genre historique") unterminiert.
Wie schon der Untertitel der vorliegenden Studie herausarbeitet, kristallisierte sich die Zersetzung akademischer Normen durch die Akademiemalerei um die Frage von Gattung und Gattungshierarchie. Dies gilt, wie Kepetzis zeigt, sowohl für die künstlerische Praxis wie kunstkritische Aufarbeitung und zwar überraschend lange. Noch bis in die 1860er-Jahre hinein arbeiten sich Kunstkritiker aller Couleur, vom progressiven Louis Clément de Ris bis zum konservativen Jules Champfleury, an der Gattungsfrage ab. Die Verwirrung war so groß, dass sich die Organisatoren des Salons schließlich in eine alphabetische Hängung flüchteten, die dann durch eine Aufteilung nach Formaten ästhetisch überformt wurde. Im Gegenzug versuchte die Salonkritik, den durch diese hilflos-willkürliche Anordnung ausgelösten Zusammenbruch von Strukturprinzipien wenigstens in der Beschreibung wieder kategorisch zu kontrollieren. Letztlich was der Versuch nach einer neuen Verbindlichkeit jedoch zum Scheitern verurteilt. Systematisch und facettenreich fächert das Kapitel zur französischen Kunstkritik diesen Prozess auf, der vom Verschieben der Gattungsgrenzen zu deren Verwischen und letztendlich gänzlichem Verschwinden führen sollte (225-265). 1861 konnte Léon Lagrange dann nur noch feststellen: "Au milieu d'un tel chaos de doctrines, d'idées, de sujets, de dimension, le classement des œuvres admises offre de sérieuses difficultés [...]" (249). Von nun an herrschte, wie Ernst Chesneau resignierend ein Jahr später feststellte, die vollkommene Anarchie der Lehren (253).
Insgesamt zeichnet sich "Vergegenwärtigte Antike" durch einen Detailreichtum der Bildanalysen und die Vielfältigkeit der Quellen aus, die an dieser Stelle leider nicht in gebührender Länge dargelegt werden können. Grundsätzlich operiert die Studie durch ein Alternieren bildimmanenter und historiographischer Teile. Diese Zusammenstellung erlaubt es der Autorin, den Bilddiskurs im Dialog von Gemaltem und dessen Rezeption zu entwickeln. Indem Kepetzis die Neubelebung des Antikischen im historischen Genre des 19. Jahrhunderts neu beleuchtet, liefert sie Anregungen für eine Ausdehnung des analytischen Instrumentariums und eine Neudefinition der Malerei in der Moderne.
Anmerkungen:
[1] Niklas Maak: Die wahren Modernen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10. Januar 2010, 17-18, 17.
[2] Siehe z. B. die bahnbrechenden Studien von Stephen Bann: Paul Delaroche: History Painted, Princeton 1997 oder Tim Barringer / Elizabeth Prettejohn (eds.): Frederic Leighton: Antiquity, Renaissance, Modernity, New Haven 1999.
Cordula Grewe