Julian Führer: König Ludwig VI. von Frankreich und die Kanonikerreform (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1049), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2008, 392 S., ISBN 978-3-631-54522-5, EUR 59,70
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Betrachtet man die Entwicklung der Forschungen zu Reformbewegungen innerhalb der mittelalterlichen Vita religiosa, so fallen zwei Schwerpunktsetzungen ins Auge: Untersucht werden interne, nicht selten normative Entwicklungen wie etwa die Genese und Verschriftlichung von Regeltexten und Consuetudines. Dem stehen Studien gegenüber, die nach der herrschaftlichen und gesellschaftlichen Einbettung von Reformen fragen, diese gleichsam als politische und soziale Phänomene betrachten. Die hier vorzustellende Berliner Dissertation von 2003 vertritt diese zweite Kategorie. Durch die gezielte Untersuchung der Stellung Ludwigs VI. von Frankreich im komplexen Gefüge der hochmittelalterlichen Kanonikerreform geht sie aber auch eigene methodische Wege. Die Entwicklungen im französischen Raum stehen nicht als solche im Mittelpunkt, auch wenn Julian Führer eine souveräne Synthese der einzeln gut erforschten Zweige der Reform bietet. Sie dient vielmehr als exemplarisches Untersuchungsfeld für die (kirchen-)politische Initiative und Handlungsfähigkeit eines Herrschers. Die Kanonikerreform wird gleichsam zum Prisma der Persönlichkeit Ludwigs. Daher stellt Führer selbstbewusst die Frage nach eben jener Persönlichkeit des Königs (43 und erneut resümierend 299).
Es gehört zu den Gemeinplätzen mediävistischer Forschung, die Grenzen biographischen Arbeitens für die Zeit vor dem späten Mittelalter zu betonen. Gerade das selektive Bild Ludwigs VI. in den Gesta Ludovici regis Sugers von St-Denis, die durchaus als biographischer Baustein verstanden werden könnten, hat dazu geführt, dass Ludwig vor allem als militärisch profilierte, innenpolitisch aber kaum prägende Übergangspersönlichkeit in der Entwicklung des französischen Königtums gesehen und als solche von der Forschung gemieden wurde. Dem stellt Führer eine minutiöse Auswertung des Urkundenbestandes gegenüber, rückt damit aber auch eine Quellengattung in den Mittelpunkt, die für die Annäherung an ein politisches Persönlichkeitsprofil nicht unproblematisch ist. Mit Jean Dufours exzellenter Edition der Urkunden Ludwigs VI. verfügt dieses Vorhaben jedoch über eine solide Basis.
Nach einem allgemein gehaltenen Abschnitt (15-42), in dem die zeitgenössischen Fragen und Problemkreise der Kanonikerreform ins Gedächtnis gerufen und diese geschickt mit den Fragestellungen der Forschung verknüpft werden, folgen vier Hauptteile. Der erste Hauptteil (43-112) dient dazu, Topographie und Parameter der politischen Einflussnahme des Königs zu bestimmen. Darin integriert Führer auch eine detaillierte Auseinandersetzung mit den in Ludwigs Namen ausgestellten Urkunden. Zwei zentrale Beobachtungen können in Bezug auf die räumliche und personelle Strukturierung der Herrschaft Ludwigs festgehalten werden: 1. Das politische Handeln blieb auf die Krondomäne beschränkt. Die einzige Ausnahme, die Intervention in Bordeaux im Todesjahr 1137, erklärt sich allein aus der Eheschließung des Thronfolgers Ludwig mit Eleonore von Aquitanien. 2. Die Träger der Hofämter entstammten einem sehr engen Personenkreis, den vor allem die Familien de la Tour de Senlis und Garlande bestimmten. Letzterer entstammte Stephan von Garlande, der als königlicher Kanzler zum wohl wichtigsten Staatsmann der Regierung Ludwigs VI. aufstieg.
Im zweiten Hauptteil (113-197) untersucht Julian Führer an Fallbeispielen den tatsächlichen Grad der Einflussnahme Ludwigs VI. auf die Kanonikerreform in der französischen Krondomäne. Das Spektrum reicht von den Kongregationen von Arrouaise und Prémontré über die Gruppe der regulierten Chorherrenstifte bei Bischofsstädten zu den einfachen Kollegiatskirchen. Die in der Forschung immer wieder betonte Relevanz der Regularkanoniker als Träger der Seelsorge ist für den näher untersuchten Raum kaum greifbar, wo allein Saint-Jean-des-Vignes in Soissons bedeutsame seelsorgerische Aufgaben übernahm, allerdings vom König unbeachtet blieb. Die regulierten Stiftskirchen vor den Toren der Bischofsstädte wirkten aber als spirituelle Vorbilder und Ausbildungsstätten des diözesanen Klerus. Die direkte Einflussnahme des Königs hing in erheblichem Maße von der Königsnähe der in den und im Umfeld der Gemeinschaften wirkenden Personen ab, wie das prominente Beispiel Ivos von Chartres zeigt, der zunächst dem Stift St-Quentin bei Beauvais vorstand. Krisensituationen konnten die Aufmerksamkeit des Königs verstärken. Dies wird in erster Linie durch die Entwicklung der überaus gut dokumentierten Gemeinschaft St-Victor bei Paris deutlich, an der Ludwig nicht zuletzt in Form von reichen Dotierungen ein schwankendes, aber nie gänzlich abreißendes Interesse zeigte. Hinter den königlichen Initiativen stand insgesamt betrachtet ein Motivkreis aus Einflussnahme durch nahestehende Große, Wahrnehmung königlicher Rechte sowie materielle Absicherung der Gebetsleistungen und damit des eigenen Seelenheils. Den Eindruck einer kohärenten Reformpolitik des Königs erweckt dies nicht, auch wenn Ludwig während seiner letzten Regierungsjahre nach dem Sturz (1127) und der Rehabilitierung Stephans von Garlande (1132) mehr Eigeninitiative entwickelte.
Diese Ergebnisse werde durch die Beobachtungen zu den alten Benediktinerklöstern, den Cluniazensern, Fontevraud und den Zisterziensern, die Führer im Sinne vergleichender Ordensforschung im folgenden Teil (199-268) ergänzt, zusätzlich gestützt. Auch hier waren individuelle Bindungen sowie Sympathie und Antipathie gegenüber leitenden Persönlichkeiten in den Gemeinschaften entscheidend, ohne dass klare Präferenzen zu erkennen wären. Auffällig ist, dass Konvente wie St-Germain-des-Près und St-Denis versuchten, schwindender oder schwankender Anteilnahme des Herrschers durch Fälschungen karolingischer Königsurkunden entgegenzuwirken.
Den Bischöfen musste im Hinblick auf die Entwicklung der Kanonikerreform auch in der französischen Krondomäne eine Schlüsselposition zukommen. Insofern widmet die Studie ihrem Wirken folgerichtig ein abschließendes Kapitel (269-298). Auch hier zeigt sich ein sehr facettenreiches, von individuellen Entscheidungen der Diözesanen geprägtes Bild. Dabei musste die Tatsache, dass sich ein Bischof, wie etwa Johannes von Orléans, gegen die Reform von Stiften in seiner Diözese entschied, nicht zwangsläufig bedeuten, dass dieser den hochmittelalterlichen Neuerungen in der Vita religiosa generell ablehnend gegenüberstand. Bemerkenswerterweise kam es, anders als etwa in Südfrankreich, in der französischen Krondomäne überhaupt nicht, nördlich der Loire generell nur in Séez im normannischen Einflussbereich zur Regulierung eines Domkapitels.
Julian Führers Studie erweist sich insgesamt als konsequente Auswertung von Jean Dufours Edition der Urkunden Ludwigs VI. Sie schöpft ihre besondere Stärke aus der vergleichenden Synthese wie auch aus der Einbeziehung der Person Ludwigs. Es bleibt jedoch der Vorbehalt, ob die Frage nach der Persönlichkeit des Königs in Absolutheit überhaupt gestellt werden sollte. Der gewählte Zugriff über die Kanonikerreform liefert hier aufs Ganze gesehen eher ernüchternde Ergebnisse. Bei einer günstigeren Quellenlage dürfte eine deutlichere Verknüpfung der eingangs skizzierten Forschungsschwerpunkte weiterhelfen. Denn: Fragt man explizit nach dem inneren Wesen einer Reform und deren Mitgestaltung durch eine politische Elite, so dürfte dies bis zu einem gewissen Grade auch Auskunft über Wesen und Selbstverständnis dieser politischen Elite geben.
Gordon Blennemann