Walter Demel (Hg.): WBG Weltgeschichte. Band IV: Entdeckungen und neue Ordnungen. 1200 bis 1800 (= WBG Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, VII + 504 S., ISBN 978-3-534-20107-5, EUR 58,20
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An so genannten Weltgeschichten fehlt es nicht, zumindest nicht für die Zeit seit der Entdeckung Amerikas im Jahre 1492. Der von Walter Demel herausgegebene Band unterscheidet sich jedoch von ihnen durch die umfassende Berücksichtigung politischer und institutioneller, religiöser, intellektueller, kultureller und sozialer Aspekte sowie durch seine konsequent globale Perspektive: Die Weltgeschichte wird unter dem Blickwinkel der globalen Zusammenhänge und Abhängigkeiten hinterfragt.
In seiner knappen Einleitung charakterisiert Demel die Periode zwischen 1200 und 1800 durch die Entdeckung unbekannter Landstriche, durch den Ausbau der Kontakte zwischen weit entfernten Weltgegenden sowie durch politische und gesellschaftliche Machtverschiebungen. Der komparatistische Ansatz relativiert sofort die Stellung Europas: "Nur auf wenigen der angesprochenen Gebiete [d.h. Bevölkerung, Landbau und Technik] besaß Europa vor 1800 gegenüber anderen Kulturen einen klaren Vorsprung" (2-3). Mit der Ablehnung jeder eurozentrischen Sicht geht eine zeitliche Öffnung einher. Die Begriffe "Mittelalter" und "frühe Neuzeit" werden lediglich aufgrund des Sprachgebrauchs verwendet. Der Band ist in drei Teile gegliedert, in denen Demographie, Technik und Wirtschaft (9-106), Herrschaft und politische Ideen (107-257), schließlich Kultur, Religion und Sozialisation (259-471) behandelt werden.
Norbert Ortmayr stellt zunächst (11-28) das Wachstum der Weltbevölkerung von 400 Millionen auf fast eine Milliarde in der untersuchten Zeitspanne und deren ungleiche Konzentration in drei "Dichte-Zentren" (China, Indien und Europa) fest. Außerdem hebt er die Existenz bestimmter Frontierräume in Osteuropa, Westchina und Ostbengalen sowie die zugrunde liegenden Änderungen in der Landnutzung hervor.
In einem anregenden und umfassenden Beitrag über den technischen Wandel (29-61) setzen sich Marcus Popplow und Reinhold Reich mit den Produkt- und arbeitsorganisatorischen Innovationen und damit mit der Existenz eines "europäischen Sonderwegs" auseinander: Der europäische Industrialisierungsprozess sei nicht auf eine "wissenschaftlich-rationale" Mentalität des frühneuzeitlichen Europa, sondern auf den verstärkten Einsatz neuer Technologien und Verfahren zurückzuführen. Wenn Popplow und Reich die Erfindungen und die Techniktransfers beleuchten, behandeln sie Europa und den Rest der Welt nicht als Blöcke, sondern behandeln einzelne Gewerberegionen, allen voran Oberitalien, dann Flandern und die Niederlande, anschließend England sowie Jingdezhen (für die Porzellanherstellung), Suzhou und Hangzhou (für die Seidenverarbeitung) in China. Zwar lassen sich die technischen Innovationen in Europa nicht als Ergebnis wissenschaftlicher Überlegungen identifizieren. Seit dem 15. Jahrhundert verdichteten sich jedoch dort im Kontext der politischen Konkurrenz und Patronage "Innovationskulturen", die Erfindungen einen hohen Stellenwert beimaßen.
In einem weiteren, sehr schön geschriebenen Beitrag (62-106) beschäftigt sich Folker Reichert mit dem Fernhandel und den Entdeckungen neuer Länder oder Inseln, die als Triebfeder und Ziel vorrangig den Handel hatten. Er kann zeigen, dass "umgekehrte Entdeckungsreisen" vom Morgenland nach Europa punktuell und ohne Folgen blieben. Trotz seines asymmetrischen Charakters stellte jedoch der Columbian exchange eine globale Alltagskultur her, die zumindest am Beispiel der Genussmittel Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak nachgewiesen ist.
Der zweite Teil beginnt mit zwei prägnanten Abhandlungen von Walter Demel über die Weltpolitik (109-161) und die Reichs- und Staatsbildungen (162-212), in denen er sich mit der Periodisierung und den Machtverschiebungen befasst. Ulrich Weiß schlägt anschließend eine bündige Synthese über die Weltdeutungen und politischen Ideen (213-257) von Thomas von Aquin bis Machiavelli, Hobbes, Locke und Rousseau vor und wirft einen Blick auf den islamischen und den chinesischen Kulturkreis.
Der dritte Teil ist in fünf Beiträge gegliedert. Gerrit Walther stellt zunächst die "Renaissancen und kulturellen Entwicklungen" dar (261-295). Dabei hebt er insbesondere die Unterschiede hervor: Während im Westen die "säkulare Kultur der Antike" aufgewertet wurde und sich dadurch "ein Geist der Kritik" entwickelte (294), zielten die kulturellen Bewegungen im Orient auf eine Reinigung der Traditionen und auf eine religiöse Erneuerung ab. Zudem wurden im Morgenland solche Strömungen nie zu allgemeinen Bildungsbewegungen. Ute Lotz-Heumann schildert anschließend die Reformation und die Konfessionalisierung in Europa (296-324). In einem sehr anregenden Beitrag bietet Johannes Meier einen weltweiten Überblick über die Expansion des Islams und der orthodoxen Christenheit sowie über die protestantischen und die katholischen Missionen, wobei er das pragmatische Ideal der Jesuiten - Evangelisierung und ganzheitliche menschliche Entwicklung - betont.
Stefan Ehrenpreis öffnet die Perspektive auf die unterschiedlichen Formen der Erziehung, der Bildung und der Wissenschaft (384-428) in Europa bis zur Frühaufklärung, in den Kolonialreichen, in der orthodoxen Welt, im Islam, in Indien, in China, in Japan und im subsaharischen Afrika. Während in China beispielsweise fremde Modelle oft abgelehnt wurden, wussten die indigenen Bevölkerungen europäischer Kolonialgebiete die mit Gewalt übertragenen Bildungseinrichtungen teilweise für eigene Zwecke zu nutzen.
In einem letzten Beitrag beschäftigt sich Andreas Gestrich mit der Sozialstruktur und dem Begriff der Professionalisierung (429-471), die vom Globalhistoriker Marshall Hodgson zu den Grundlagen des wirtschaftlichen Aufstiegs Europas gezählt werden. Die Ansätze zu einer primär dem Staat als Institution verpflichteten Beamtenschaft lassen sich in Europa im 18. Jahrhundert ausmachen. In einem Ausblick (473-476) hinterfragt Walter Demel die Periodisierung der Zeitspanne zwischen 1200/1500 und 1800.
Wie alle Sammelbände weist dieses Werk einige Schwächen auf. Lehrbücher sollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Fragestellungen und Forschungsansätze darstellen. Die allgemeine Einleitung nimmt lediglich die Gliederung des Bandes vorweg. Sie beschäftigt sich keineswegs mit den methodischen Fragen des Vergleichs und der Transferforschung sowie der Artikulation zwischen makro- und mikrohistorischen Ebenen. Das Kapitel zur Reformation und Konfessionalisierung ist lehrbuchhaft geschrieben. In einem der globalen Geschichte gewidmeten Buch stellt sich zudem die Frage, warum dieses einzige rein europäische Kapitel die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich und vor allem die Juden nicht berücksichtigt, die im gesamten Buch kaum erwähnt sind (bis auf 400-402). Einige Behauptungen hätten wesentlich stärker nuanciert werden können. So in der Einleitung die Idee, dass seit der Renaissance in Europa das philosophische Denken sich "immer mehr" säkularisiert habe und "der Mensch als Individuum ins Zentrum der Betrachtungen gestellt" worden sei (4). Auch die Zusammenfassung der politisch-konfessionellen Entwicklung in Europa unter dem Motto cuius regio, eius religio (297-298, 310-311, 324) ist bestreitbar, zumal diese Maxime eine polemische lutherische Interpretation des ius reformandi ausdrückte und selbst im Alten Reich nur in wenigen Territorien der Realität entsprach.
Trotz dieser Einwände öffnet dieser Sammelband die Perspektive auf bisher kaum behandelte Themen, wie Technik, Erziehung, Sozialisation und Professionalisierung. Er führt einige Gründe für den Aufstieg Westeuropas an, lässt aber die Frage offen, wie und inwieweit dieser sich vollzogen hat. Und er bietet eine sehr solide Darstellung der demographischen, technischen, kulturellen, religiösen und sozialen Verschiebungen und Austauschprozesse in einer klaren und ausdrucksvollen Sprache. Insofern ist das Ziel einer globalen Weltgeschichte erreicht worden.
Claire Gantet