Rezension über:

Wiebke Janssen: Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur, Berlin: Ch. Links Verlag 2010, 319 S., ISBN 978-3-86153-579-9, EUR 29,90
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Rezension von:
Marc-Dietrich Ohse
Hannover
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Marc-Dietrich Ohse: Rezension von: Wiebke Janssen: Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur, Berlin: Ch. Links Verlag 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/18002.html


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Wiebke Janssen: Halbstarke in der DDR

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Die Autorin will mit ihrer Studie, die auf einer Dissertation basiert, einen Beitrag zu einer "integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte" (Konrad Jarausch) leisten. Sie folgt dabei dem Ansatz Christoph Kleßmanns, die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten als "asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte" zu betrachten. Als "vielversprechendes Forschungsfeld" dafür betrachtet Janssen jugendliche Subkulturen, speziell die sogenannten "Halbstarken", die "erste amerikanisierte Jugendkultur in der deutschen Nachkriegsgeschichte." (11)

In der Auseinandersetzung mit den "Halbstarken", die sich selbst nie so nannten, wurde ein Generationenkonflikt virulent, der in der Bundesrepublik auch zur Zivilisierung und Modernisierung der Gesellschaft beitrug, in der DDR aber durch "die unverhältnismäßige Politisierung und ideologische Überfrachtung nonkonformer jugendlicher Verhaltensweisen" massiv aufgeladen wurde (12). Geschuldet sei dies unter anderem "einer spezifischen generationellen Konstellation", die zu Konflikten führte zwischen Teilen der SED-Führung, die in der Weimarer Republik sozialisiert wurden, und der FDJ-Aufbaugeneration einerseits und Jugendlichen, Angehörigen der "funktionierenden Generation" (Thomas Ahbe/Rainer Gries) andererseits, die nicht so funktionierte, wie sie sollte (13).

Janssens Studie schließt an Studien zu jugendlichen Subkulturen in der DDR der 1960er bis 1980er Jahre, zur Jugendpolitik der SED in den 1950er Jahren, zur Auseinandersetzung mit US-amerikanischer Populärkultur in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten und zu "Halbstarken" in der Bundesrepublik an. Als Quellen nutzt die Autorin Materialien aus dem Bundesarchiv und - entsprechend ihrem regionalen Fokus - den Landes- und Staatsarchiven in Merseburg, Magdeburg und Chemnitz sowie Stasiunterlagen. Herangezogen hat sie des Weiteren Presseberichte und - mangels einer breiteren Gegenüberlieferung - vereinzelte narrative Zeitzeugeninterviews mit Jugendlichen der damaligen Zeit.

Ausführlich diskutiert Janssen verschiedene Begriffe, die sowohl in den heutigen Forschungsdebatten als auch für die zeitgenössischen Diskurse von zentraler Bedeutung sind, darunter (Selbst-)Amerikanisierung/Westernisierung, Subkultur(en) und Dynamisierung/Modernisierung. In der Diskussion um "Halbstarke" und "Rowdies" holt die Autorin zeitlich weit aus, bis in das 19. Jahrhundert, wobei sie den Rowdybegriff - im Widerspruch zu Uta G. Poiger - aus dem antiamerikanischen Diskurskontext des SED-Regimes lösen kann. Auch in ihrer Darstellung der SED-Jugendpolitik geht Janssen zeitlich weiter zurück, als dies gemeinhin üblich ist; deren Grundzüge erkennt die Autorin bereits in der "instrumentelle[n] Sichtweise Lenins" auf die Jugend (34).

Janssen geht zunächst auf die Organe sowie auf Ziele und Inhalte der Jugendpolitik in der DDR um 1956 ein, die wesentlich von Ideologisierung statt von altersgemäßer politischer Arbeit und entsprechenden Angeboten geprägt war. Sodann skizziert die Autorin die zentralen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Betrieb(e) und Freizeit. Interessant sind dabei vor allem ihre Ausführungen zur Familie und deren Prägung durch die Nachkriegssituation. Weil viele Familien unvollständig waren, wurde die Sozialisation Jugendlicher auf die anderen Instanzen verlagert.

In den drei zentralen Kapiteln ihrer Studie widmet sich Janssen zunächst der Subkultur der "Halbstarken", ihrer Prägung durch "Schund- und Schmutzliteratur" (so das Verdikt der SED), durch US-amerikanische Filme und Rock 'n' Roll. Danach geht sie auf Auseinandersetzungen mit "Halbstarken", auf deren Gruppenbildungen und auf die Kriminalisierung dieser Subkultur ein. Dabei zeigt die Autorin, dass die Konflikte mit "Halbstarken" keineswegs ein marginales Problem in der DDR waren, wie Peter Skyba meinte, und kann dies mit immerhin 22 statt - wie bislang - sechs großen "Halbstarken"-Krawallen belegen. Anhand dreier Fallbeispiele widmet sie sich der Typologie derartiger Konflikte, Herkunft und Motivlagen der beteiligten Jugendlichen sowie der öffentlichen Diskussion, medialen Reflexion und politischen Instrumentalisierung der Krawalle.

Janssen gelingt es, vielfältige wechselseitige Bezüge zwischen den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften nachzuweisen. Die Entwicklung der Subkultur der "Halbstarken" und das politische Umfeld waren geprägt vom Kalten Krieg und der (innerdeutschen) Systemkonkurrenz und wurden in der DDR erheblich durch verschiedene Krisen beeinflusst, etwa den Volksaufstand 1953, den Ungarnaufstand 1956, die zweite Berlin-Krise ab 1958 und die Zwangskollektivierung. Vor diesem Hintergrund wurden nonkonforme Jugendliche rasch kriminalisiert. Das "Halbstarken"-Phänomen hatten Volkspolizei und Ministerium für Staatssicherheit in den Griff zu bekommen, nachdem die Freie Deutsche Jugend dabei auf ganzer Linie versagt hatte. In der Kriminalisierung nonkonformer Jugendlicher, die sich auch in den nachfolgenden Jahrzehnten fortsetzte, erkennt die Autorin einen wesentlichen Unterschied zur Entwicklung in der Bundesrepublik. Dort wurden nonkonforme Jugendliche zwar ebenfalls massiv angefeindet, doch trugen Polizei und "Cold War Liberals" (Poiger) wie auch die Konsumindustrie schließlich zur Deeskalation des Generationenkonfliktes bei.

Wiebke Janssen liefert einen wichtigen Beitrag zur Erforschung jugendlicher Subkulturen im Spannungsfeld zwischen individuellen Freiheits- und politisch-ideologischen Normierungsansprüchen. Sie schließt damit nicht zuletzt die Lücke der 50er Jahre, die auf diesem Forschungsgebiet bislang klaffte. In ihrer anschaulichen und quellengesättigten Darstellung kann sie zudem vielfach Bezüge zwischen den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften aufzeigen, wenngleich dieser Vergleich noch ausführlicher hätte ausfallen können - was im Rahmen einer Dissertation jedoch wohl kaum zu leisten war. Die Autorin benennt diesen Schwachpunkt ihrer Arbeit und fordert gar die Erweiterung ihrer Vergleichsperspektive um einen Y-Vergleich (Hans Günter Hockerts), also um die gemeinsame Betrachtung von Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR; dennoch hat sie mit dem Nachweis von deutsch-deutschen Asymmetrien, Verflechtungen und Parallelen im Umgang mit den "Halbstarken" zweifellos einen wichtigen Beitrag zu einer integrierten deutschen Nachkriegs(gesellschafts)geschichte geleistet.

Marc-Dietrich Ohse