Rezension über:

Nils Büttner: Vermeer (= C.H. Beck Wissen; 2511), München: C.H.Beck 2010, 127 S., ISBN 978-3-406-59792-3, EUR 8,95
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Rezension von:
Thierry Greub
Internationales Kolleg Morphomata, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Thierry Greub: Rezension von: Nils Büttner: Vermeer, München: C.H.Beck 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/18271.html


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Nils Büttner: Vermeer

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Gelungene Monografien zu einzelnen Künstlern sind unverzichtbare "Scharnierstellen": Als Summa der Forschung fassen sie das bislang zur Verfügung stehende Wissen zusammen. Zudem werfen sie neue Fragestellungen auf und erlauben einen Ausblick auf noch ausstehende Aufgaben. Neben dieser forschungsgeschichtlichen Funktion kommt Künstler-Monografien die inhaltlich schwierige Aufgabe der Vermittlung zwischen Biografie, Werk und Rezeption zu, womit sie sich auch methodisch verorten. Gerade bei traditionell als "rätselhaft" geltenden Werken von Künstlern spitzt sich diese Aufgabenstellung zur Quadratur des Kreises zu.

Umso mehr erfreut es, wenn eine jüngst in der Reihe C. H. Beck Wissen erschienene Kurz-Monografie von Nils Büttner zu Johannes Vermeer (1632-1675) sich nicht nur als überaus gut lesbar erweist, sondern auch die angesprochenen Hürden meisterlich schultert, indem sie einen aktuellen und ausgewogenen Forschungsstand zum Delfter Maler - auf den durch die Bandreihe vorgegebenen knappen 120 Seiten - vorlegt und neue Wege der Forschung skizziert.

Die Monografie beginnt mit der berühmten Passage aus Prousts Recherche, wo Bergotte vor der Ansicht von Delft den Tod findet, und bringt so - etwas vereinfachend - die übliche Rezeptionshaltung des kunstinteressierten Betrachters auf den Punkt: "Was blieb, war die kollektive Erkenntnis, dass Vermeers Bilder zum Sterben schön seien" (8). Die Grundfrage des Autors bildet im Gegensatz dazu "die prinzipielle Andersartigkeit des Blicks [...], mit dem die Zeitgenossen Vermeers seine Bilder betrachteten" (10).

Nach dem biografischen Aufriss der "Lebensspuren" (11-21), wo die überkommenen Mythen um den verarmten, vereinsamten Delfter Maler endlich ad acta gelegt werden, folgt in chronologischer Reihenfolge zunächst die Besprechung der Frühwerke, dann, nach thematischen Gruppen wie "häusliche Frauenarbeit", "Stadtansichten" oder "Briefe" geordnet, die Besprechung der Bilder der reifen 1660er-Jahre.

Sieht man von Ausstellungskatalogen, Kurzmonografien und dezidiert wissenschaftlichen Einzelstudien ab, so handelt es sich bei Büttners Zusammenschau um den ersten auf Deutsch erschienenen, umfassenden Vermeer-Band seit Norbert Schneiders Taschen-Monografie von 1993 (der lediglich 96 Seiten zählende Band liegt momentan in der 12. Auflage vor). Umso willkommener ist jetzt nach über einer halben Generation ein neuer Überblick zu Leben und Werk des Delfters. Eine vergleichende Gegenüberstellung zeigt rasch, welche grundlegenden Neuperspektivierungen in der Vermeer-Forschung seither zu beobachten sind - dies vor allem dank der großen Vermeer-Ausstellung in Washington und Den Haag von 1995/1996 [1] und den erwähnten wissenschaftlichen Arbeiten. [2] Wesentliche Anregungen hätte auch Daniela Hammer-Tugendhats jüngst erschienenen Studie zur Malerei des Goldenen Zeitalters geboten, die vom Autor wohl aus Erscheinungsgründen nicht mehr eingearbeitet werden konnte. [3]

Deutete Norbert Schneider Vermeers Gemälde hauptsächlich noch rein biografisch beziehungsweise ikonologisch mit darauf aufbauender Klassifizierung nach moralisierenden Kriterien als (zumeist) negative respektive (selten) positive Ermahnungsbilder, so fächert Büttner die methodischen Zugänge zu den einzelnen Werken wohltuend differenziert auf. Der Autor nutzt mit großer Selbstverständlichkeit neben der ikonografisch-emblematischen Untersuchungsmethode auch gleichrangig die formale Betrachtung der Gemälde. Mit Blick auf die gesamte Studie überrascht dann aber doch, wie stark auch Büttner noch immer zwischen den beiden doch komplementären Ansätzen navigiert: Herrscht anfangs der Blick auf die Kompositionsstrukturen vor, so dass Büttner kurzfristig zu einer a-ikonografischen Sicht tendiert (etwa wenn er der Dienstmagd mit Milchkrug neben dem Motiv des Sahneausgießens "keine weitergehende inhaltliche, poetische oder alltagspraktische Bedeutung" (38) zuspricht), so überwiegt dann im weiteren Verlauf des Textes (besonders im Abschnitt "Alkohol, Musik und Moral") wieder die zweifellos wichtige, in ihrer Ausschließlichkeit aber überkommene, rein ikonografische Deutungs-Schiene.

Büttner thematisiert jedoch auch neue methodische Ansätze, die sich seit den 1990er-Jahren in der Vermeer-Forschung etabliert haben: Neben den "unmittelbaren Entstehungszusammenhänge[n], [...] künstlerischen Beziehungen und Abhängigkeiten" (10) der Gemälde kommen ebenso "historische, soziale und ökonomische Kontexte" (10) zur Sprache sowie für die Malweise und Datierungsproblematik wichtige gemäldetechnologische Untersuchungsergebnisse. Diese haben mittlerweile äußerst interessante Hinweise zum Entstehungsprozess einzelner Werke geliefert, die von Vorstufen über Kompositionsänderungen bis zur Rekonstruktion des ursprünglichen Aussehens zur Entstehungszeit reichen.

Der Brückenschlag zwischen Biografie und Werk gelingt Büttner am überzeugendsten dort, wo er die Käuferschicht der Gemälde in seine Deutungen einbezieht. Explizit tut er das für das sogenannte Frühwerk der 1650er-Jahre (das heißt die Zeit von Vermeers Eintritt in die Delfter St. Lukas-Gilde am 29. Dezember 1653 bis in die Jahre gegen 1660), indem er diese Zeitspanne, in der sich die unverwechselbare künstlerische Individualität Vermeers herauskristallisierte, konsequenter als bisherige Autoren in Hinblick auf das hohe Anspruchsniveau des Künstlers herausarbeitet. Büttner sieht in den ungewöhnlich großformatigen Gemälden, die jeweils über 1 mal 1 Meter messen, "einen Versuch Vermeers [...], sich [...] als geeigneten Maler für gehobene Ausstattungswünsche zu empfehlen" (30), der für die adligen respektive nach adligem Vorbild lebenden Bürger der Oberschicht malte. So wären auch die ersten Gemälde - wobei hier jedoch die Verlustquote bei hohen 50% liegt - mit mythologischen und biblischen Szenen (neben dem Zeitgeschmack) in einem ebensolchen sozialen Rezipientenbereich thematisch klar zu situieren.

Weniger zu überzeugen vermag Büttners Ansicht, die er mit einem Zitat von Cornelis Hofstede de Groot von 1907 untermauert, dass die kleinformatigen Gemälde Vermeers der 1660er-Jahre in ihrer häuslichen Insichgekehrtheit keinerlei Verbindungen zu den Anfangswerken aufweisen würden. Der Autor streicht in den "Frühwerken" selbst jene Gestaltungselemente heraus, die auch für die Werke der 1660er-Jahre charakteristisch sind: das Bildpersonal gleicht "Figuren des Alltags" (25) und steht "unmittelbar an den vorderen Rand des Bildes gerückt" (26). Zu überlegen wäre vielmehr, inwieweit Grundmuster des "Frühwerks" in verwandter, wenngleich modifizierter Form in den späteren Einpersonengemälden doch noch erhalten bleiben - und ob nicht gerade auch die Werke nach dem Frühwerk dasselbe hohe Anspruchsniveau aufzeigen.

Im weiteren Verlauf des Buches überrascht nach dem besonders gelungenen Einstieg zum "Frühwerk" das Fehlen einer geschlossenen Thematisierung des "Spätwerks". Zu Recht ist mit Büttner zwar die übliche, pseudostringente Aufteilung der Werkentwicklung eines Künstlers - nicht nur Vermeers - in ein Frühwerk, ein Werk der Reife und ein Spätwerk zu kritisieren, zumal der Delfter 1675 unerwartet mit erst 43 Jahren und nur 22 Jahren künstlerischer Tätigkeit stirbt. Dennoch bildet das Spätwerk, also die Gemälde nach 1670, doch ein eigenständiges Ganzes. Indem diese Bilder in die thematischen Sektionen aufgeteilt werden, wird diese Werkphase Vermeers nicht mehr in integraler Sehweise erkennbar. Diese Einschätzung deckt sich mit der bisherigen Forschung, die Gemälde wie die beiden Londoner Virginalspielerinnen oder die Gitarrenspielerin aus Kenwood House nur unter den Vorzeichen des traditionellen Verständnisses eines "Spätwerks", als Phase der Erschlaffung und Qualitätsminderung, sehen kann. Doch gerade in diesen Bildern schraubt sich Vermeer nach den Gemälden der 1660er-Jahre zu neuen Experimenten hoch, die eine neue Eigenwertigkeit besitzen.

Damit wäre ein weiterer Aspekt der zukünftigen wissenschaftlichen Arbeit an Vermeer benannt - neben der Einbindung des Frühwerks in das Gesamtœuvre sowie die Vermischung von Formanalyse und Ikonografie bei der Bildbeschreibung. Die Einbeziehung biografischer, sozial- und rezeptionsgeschichtlicher, sowie gemäldetechnologischer Analysemethoden ist mit Büttners Band in stringenter Weise erreicht und spiegelt damit die begrüßenswerte Entspanntheit, die die Forschung mittlerweile im Umgang mit den Gemälden Vermeers erreicht hat. Am einfachsten lässt sich diese Tatsache an den Titeln der Gemälde ablesen, die Büttner gewählt hat: Durchwegs fehlt jetzt der unbestimmte Artikel, so dass etwa der Bildtitel, der in einem Ausstellungskatalog von 1696 "junge Dame, die Gold wägt" und zuletzt Die Frau mit Waage hieß, nunmehr einfach Frau mit Waage lautet. Diese neue entmythologisierende Sachlichkeit ist der gesamten Monografie Büttners abzulesen. Insofern scheint der langdauernde Prozess der Entmystifizierung Jan Vermeers und seiner Gemälde endlich abgeschlossen. Auf der Basis von Büttners Bändchen kann nun in einer sachlichen, alle kunsthistorischen Methoden einbeziehenden Ebene entspannt weiter über Vermeer diskutiert - und gestritten werden.


Anmerkungen:

[1] Arthur K. Wheelock (Hg.): Vermeer - das Gesamtwerk (Ausstellungskatalog Washington / Den Haag, National Gallery of Art / Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis 1995/96), Stuttgart 1996.

[2] Karin Leonhard: Das gemalte Zimmer. Zur Interieurmalerei Jan Vermeers, München 2003; Thierry Greub: Vermeer oder die Inszenierung der Imagination, Petersberg 2004; Christiane Rambach: Vermeer und die Schärfung der Sinne, Weimar 2007.

[3] Daniela Hammer-Tugendhat: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien 2009.

Thierry Greub