Rezension über:

Maximilian Schreiber: Walther Wüst. Dekan und Rektor der Universität München, 1935 - 1945 (= Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München; Bd. 3), München: Utz Verlag 2008, 398 S., ISBN 978-3-8316-0676-4, EUR 59,00
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Stefanie Harrecker: Degradierte Doktoren. Die Aberkennung der Doktorwürde an der Ludwig-Maximilians-Universität München während der Zeit des Nationalsozialismus (= Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München; Bd. 2), München: Utz Verlag 2007, 409 S., ISBN 978-3-8316-0691-7, EUR 59,00
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Rezension von:
Matthias Berg
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Berg: Sammelrezension zur Ludwig-Maximilians-Universität München in der Zeit des Nationalsozialismus (Rezension), in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/18676.html


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Sammelrezension zur Ludwig-Maximilians-Universität München in der Zeit des Nationalsozialismus

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Die Geschichte deutscher Universitäten hat in den letzten Jahren eine stetig zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. Den Anlass boten einerseits zu gedenkende Gründungsjubiläen einzelner Universitäten, andererseits wandten sich die Universitäten zunehmend der lange überfälligen Auseinandersetzung mit der Rolle ihrer Institution im Nationalsozialismus zu. Auch die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität widmet sich diesem Kapitel ihrer Geschichte seit einigen Jahren, resultierend in einer Reihe von Veröffentlichungen. [1] Die thematische und methodische Ausdifferenzierung der neueren Universitätsgeschichte dokumentiert sich in den beiden folgend zu besprechenden Studien, die sich auf zwei unterschiedlichen Wegen der Geschichte der Münchner Universität in der NS-Zeit nähern.

Die Renaissance der Biografie in der deutschen Geschichtswissenschaft ist, ob man sie nun erfreut oder kritisch zur Kenntnis nimmt, unzweifelhaft. Mit Walther Wüst widmet sich Maximilian Schreiber einer der vielfältigsten und schillerndsten Figuren der NS-Wissenschaftspolitik. Wüsts Bedeutung als nationalsozialistischer Multifunktionär weist weit über den engeren Rahmen Münchner Universitätsgeschichte hinaus, Schreiber rückt das Wirken Wüsts als Dekan der Philosophischen Fakultät der Münchner Universität wie als ihr Rektor in den Mittelpunkt seiner Studie, ohne andere Aspekte zu vernachlässigen. Unterteilt in fünf Kapitel, deren zeitliche Abgrenzung an der wissenschaftlichen Biografie Wüsts orientiert ist, zeichnet Schreiber den Weg Wüsts vom Nachwuchswissenschaftler zum führenden Wissenschaftsorganisator im Nationalsozialismus nach. Bis 1933 absolvierte Wüst eine überaus erfolgreiche Nachwuchskarriere als philologisch orientierter Indologe und wurde bereits mit 25 Jahren Privatdozent der Münchner Universität. Politisch hatte sich Wüst vor 1933 öffentlich nicht positioniert, trat jedoch nach 1933 umgehend in die NSDAP ein. Wie für viele Nachwuchswissenschaftler eröffneten die frühen, massiven Eingriffe des NS-Regimes auch für Walther Wüst unverhoffte Karrierechancen, Schreiber betont aber, dass Wüst sich auch aus weltanschaulicher Überzeugung dem Nationalsozialismus anschloss. Zur wissenschaftlichen Qualifikation addierte Wüst nun rasch den Nachweis seiner "politischen Zuverlässigkeit", er wurde publizistisch aktiv und trat als Redner auf. Dass diese Karrierephase Wüsts gewisser "Anpassungen" bedurfte, zeigt Schreiber sehr deutlich, so revidierte Wüst seine 1929 noch umfassend geäußerte Kritik an den Forschungen des Privatgelehrten Herman Wirth und wurde ein "gegenüber der allgemeinen wissenschaftlichen Meinung isolierter Verfechter Wirths." (46) Zwar erwies sich die Unterstützung Wirths als eher kontraproduktiv, doch sollte Wüst für sein umfassendes nationalsozialistisches Engagement alsbald belohnt werden. Präzise zeichnet Schreiber die Veränderungen in der Philosophischen Fakultät der Münchner Universität nach, an deren Ende Wüst im Herbst 1935 auf den Lehrstuhl für Arische Philologie berufen und zugleich zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt wurde. Während Letzteres fraglos seinem politischen Engagement geschuldet war, kann Schreiber überzeugend darstellen, dass die Berufung auch wissenschaftlich gerechtfertigt war. Beide Aspekte, wissenschaftliche Befähigung und nationalsozialistische Überzeugung, schlossen sich nicht aus, sondern trugen zum raschen Aufstieg Walter Wüsts im Wissenschaftsbetrieb des NS-Staates bei.

Als Dekan sollte Wüst bis 1941 amtieren und in dieser Zeit die Philosophische Fakultät der Münchner Universität entscheidend prägen. Ausführlich dokumentiert Schreiber, wie Wüst vor allem mit seiner Personalpolitik die nationalsozialistische Umformung der Fakultät betrieb. Als "Führer der Fakultät", so fasst Schreiber zutreffend die Rolle Wüsts, verfügte er durchaus über Spielraum in der Ausübung seiner Amtsgeschäfte, auch diese Kehrseite des "Führerprinzips" verstand Wüst zu nutzen. Trotz seiner "klaren politischen Ausrichtung", so Schreiber, spielten für "Wüst persönliche Beziehungen, Sympathien und Antipathien, professorale Eitelkeiten und die Wertschätzung von unpolitischen Kollegen in fachlicher Hinsicht oft eine größere Rolle als seine nationalsozialistische Überzeugung." (75) Es zählt zu den besonderen Vorzügen der Darstellung Schreibers, dass er die miteinander konkurrierenden Aspekte der Amtsführung Wüsts als sich keineswegs ausschließende Variationen eines "Führerdekans" versteht. Gleichwohl lässt Schreiber keinen Zweifel daran, dass Wüst die Fakultät konsequent nach den Maßgaben nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik umgestaltete. Zeitgleich begann Wüsts Aufstieg zum führenden Wissenschaftsorganisator, dem Schreiber das dritte Kapitel seiner Studie widmet. Auf die Fülle an Konflikten innerhalb des nationalsozialistischen Wissenschaftsbetriebes, denen Schreiber etwas zu viel Raum einräumt, ist in diesem Rahmen nicht einzugehen. Als Kurator des SS-"Ahnenerbe" und Vizepräsident der Deutschen Akademie, auch mit seiner leitenden Beteiligung am "Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften", untermauerte Wüst seine herausragende Stellung als nationalsozialistischer Wissenschaftspolitiker. Ihre Krönung erfuhr die Karriere Wüsts mit seiner Ernennung zum Rektor der Münchner Universität 1941, doch sollte die bald folgende Kriegswende seiner Amtszeit ihren Stempel aufdrücken. Zerstörungen durch Luftangriffe und folgende Auslagerungen, zunehmende personelle Engpässe und außeruniversitäre Beanspruchungen der Studierenden - sehr treffend bezeichnet Schreiber Wüst nun als "Krisenmanager" einer im Krieg befindlichen Universität. [2] Die Rolle des Rektors Wüst bei der Verhaftung und Verurteilung der Mitglieder der "Weißen Rose", insbesondere den Entzug der Doktorwürde Kurt Hubers noch vor seiner Verurteilung, stellt Schreiber ebenso differenziert wie überzeugend dar. Nach dem Untergang des Nationalsozialismus wurde Walther Wüst verhaftet und drei Jahre interniert. Im ersten Spruchkammerverfahren als Belasteter verurteilt, gelang Wüst in der Revision eine Abschwächung dieses Urteils, nun wurde er der Gruppe der Minderbelasteten zugeordnet. Den besonderen Gewinn biografischer Studien für eine Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus unterstreicht die Untersuchung Schreibers nachdrücklich. Für verfestigte Institutionalisierungen fehlte es, angesichts einer bis 1935/36 währenden Konstituierungsphase und der seit der Kriegswende 1942 zunehmend verknappten Ressourcen, nicht zuletzt an Zeit. Überdies stand die polykratische Struktur des nationalsozialistischen Wissenschaftssystems dem auch strukturell entgegen. Machtbewusste Akteure wie Walther Wüst hingegen, dies belegt Schreiber überzeugend, konnten in diesem Wissenschaftssystem zu umfassendem Einfluss gelangen.

Zu den überaus beschämenden Kapiteln der deutschen Universitätsgeschichte zählen die zwischen 1933 und 1945 vielfach vorgenommenen Aberkennungen von Doktorgraden. Die Diskriminierung jüdischer sowie politisch missliebiger Akademiker hatte bereits im April 1933 mit dem vor allem gegen jüdische Studierende gerichteten "Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen" begonnen, sie blieb bis 1945 kennzeichnendes Merkmal nationalsozialistischer Hochschulpolitik. Mit dem Entzug von bereits erworbenen akademischen Graden erfuhren die Prämissen dieser nationalsozialistischen Hochschulpolitik zudem eine Ausweitung auf weit vor der Zeit des Nationalsozialismus liegende Phasen der deutschen Universitätsgeschichte. In einer umfassenden Studie hat nun Stefanie Harrecker die Aberkennung der Doktorwürde an der Münchner Universität in der Zeit des Nationalsozialismus untersucht. Im einleitenden Abschnitt ihrer Arbeit skizziert Harrecker die Praxis des Titelentzugs an der Münchner Universität vor 1933 und hält fest, dass es sich um ein "äußerst marginales Problem" (31) gehandelt habe. Dies sollte sich nach 1933 rasch ändern, der entscheidende Vorstoß hierfür kam aus der Münchner Universität. Auf das im Juli 1933 erlassene "Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit" bezogen, forderte der "Führer der Münchner Studentenschaft" Karl Gengenbach den bayerischen Kultusminister Hans Schemm auf, dem Verlust der Staatsangehörigkeit auch den Entzug des Doktorgrades folgen zu lassen. Die Weisung, dementsprechend die Promotionsordnungen zu ergänzen, erging umgehend an die bayerischen Hochschulen, ein etwaiger Protest seitens der Münchner Universität blieb aus. Eine im Juli 1934 durch das im Entstehen befindliche Reichswissenschaftsministerium erlassene Regelung ermöglichte den Entzug der Doktorwürde, falls der Inhaber sich als "unwürdig" erwiesen habe, dies sei bei einer Ausbürgerung der Fall. Über den Entzug entscheiden sollte ein aus Rektor und Dekanen zu bildender Ausschuss. [3] Die Entscheidung Harreckers, vor der Darstellung der "Praxis" in einem gesonderten Abschnitt die Genese der entsprechenden Verordnungen sowie zudem die wesentlichen Akteure zu beschreiben, erweist sich als ausgesprochen sinnvoll. Ihr gelingt es sehr überzeugend, die Aberkennung der Doktorwürde in den größeren Rahmen nationalsozialistischer Wissenschafts- und Universitäts-, aber auch Verfolgungspolitik einzuordnen.

Im Folgenden wendet sich Harrecker der Praxis der Aberkennung von Doktorgraden an der Münchner Universität zu. Sie unterscheidet hierbei zwischen dem Entzug infolge einer Ausbürgerung beziehungsweise aufgrund eines Gerichtsurteils, nicht zuletzt, um die Arbeit des gebildeten Universitätsausschusses präziser fassen zu können. Bei einer Ausbürgerung verfügte der Ausschuss über keinen tatsächlichen Handlungsspielraum, hingegen war ein solcher bei Entziehungen aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung teilweise gegeben. In diesen Fällen, so Harrecker, betrieb "der Ausschuss oft einen erheblichen Aufwand." (106) Ausführlich und nachvollziehbar verdeutlicht Harrecker in diesem Abschnitt den engen Zusammenhang zwischen den sich seit 1933 verändernden Rechtsverhältnissen in Deutschland, den daraus resultierenden "Schuldsprüchen" sowie den auf dieser Grundlage erfolgenden Entziehungen von Doktorgraden. Der Münchner Universitätsausschuss verzichtete auf allzu prononcierte Bewertungen und Erklärungen seiner Entscheidungen, die Aberkennungen wurden zumeist mit formalen Begründungen vollzogen. Sehr anschaulich verbindet Harrecker die Darstellung der rechtlichen und organisatorischen Umsetzung der Aberkennungen mit den Lebenswegen einzelner Betroffener. Die den Band komplettierende, ausführliche Dokumentation aller für die Münchner Universität ermittelten Fälle ist mit den analytischen Abschnitten der Studie dadurch eng verbunden, Darstellungs- und Dokumentationsteil erscheinen nicht separat, sondern stets aufeinander bezogen. In einem kürzeren Abschnitt skizziert Harrecker überdies weitere auf Promotionen bezogene Repressionen der nationalsozialistischen Hochschulpolitik wie die Be- und Verhinderung "unerwünschter" Promotionen. [4] Den darstellenden Teil der Studie beschließt ein längerer Abschnitt zum Umgang mit den in der NS-Zeit erfolgten Aberkennungen von Doktorgraden nach 1945. Vereinzelte Rehabilitierungsversuche wurden nicht zuletzt durch unvollständige Überlieferungen erschwert, vor allem aber mangelte es auch der Münchner Universität lange an Willen wie Sensibilität, um das unter Beteiligung der Universität begangene Unrecht zumindest formal zu revidieren. Präzise zeichnet Harrecker dieses unerfreuliche Kapitel bundesdeutscher Universitätsgeschichte nach, dass erst Mitte der 1990er Jahre mit ersten Aufarbeitungsversuchen sein lang überfälliges Ende fand.

Die Geschichte der Münchner Universität im Nationalsozialismus ist, gleich der anderer deutscher Universitäten, zunehmend besser, gleichwohl noch bei Weitem nicht hinreichend erforscht. Fraglos zählt die Universitätsgeschichtsschreibung zu den 'klassischen' Themen der Wissenschaftsgeschichte, umso erfreulicher, aber auch notwendiger erscheint ihre thematische wie methodische Fortentwicklung. In beiderlei Hinsicht leisten die Studien Stefanie Harreckers und Maximilian Schreibers essenzielle Beiträge.


Anmerkungen:

[1] Vgl. u.a. Helmut Böhm: Von der Selbstverwaltung zum Führerprinzip. Die Universität München in den ersten Jahren des Dritten Reiches (1933-1936), Berlin 1995; Karsten Jedlitschka: Wissenschaft und Politik. Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer (1907-1992), Berlin 2006; Elisabeth Kraus (Hg): Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze. Teil I, München 2006 / Teil II, München 2008.

[2] Überdies schließt Schreiber begrifflich überzeugend an Rüdiger Hachtmann an, der für die zwischen Wissenschaftspolitik, -organisation und -verwaltung stets changierenden Akteure der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft den Begriff des "Wissenschaftsmanagements" wählte, vgl. Rüdiger Hachtmann: Wissenschaftsmanagement im "Dritten Reich". Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Göttingen 2007.

[3] Als Dekan der Philosophischen Fakultät (Sektion I) und Rektor der Münchner Universität ab 1941 gehörte Walther Wüst diesem Ausschuss bis 1945 an.

[4] Zur Genese des Promotionsverbotes für jüdische Studierende vgl. Matthias Berg: "Können Juden an deutschen Universitäten promovieren?" Der "Judenforscher" Wilhelm Grau, die Berliner Universität und das Promotionsrecht für Juden im Nationalsozialismus, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 11 (2008), 213-227.

Matthias Berg