Rezension über:

Larissa Förster: Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken, Frankfurt/M.: Campus 2010, 391 S., ISBN 978-3-593-391601, EUR 39,90
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Rezension von:
Dörte Lerp
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dörte Lerp: Rezension von: Larissa Förster: Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken, Frankfurt/M.: Campus 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/11/17739.html


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Larissa Förster: Postkoloniale Erinnerungslandschaften

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Das wissenschaftliche Interesse an Erinnerungsorten und Erinnerungskulturen scheint seit nunmehr über zwanzig Jahren ungebrochen. Allerdings ist die Diskussion weiterhin primär durch europäische Kontexte bestimmt, wobei das Gedenken an die Shoah und den Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt steht. Erst in den letzten Jahren hat auch die Erinnerung an Deutschlands koloniale Vergangenheit - oder, je nach Perspektive, die Verdrängung derselben - ein gewisses Maß an wissenschaftlicher Aufmerksamkeit erlangt. [1] Larissa Förster hat nun eine umfassende Untersuchung vorgelegt, die sich dem Umgang unterschiedlicher Erinnerungsgemeinschaften in Namibia mit dem Kolonialkrieg von 1904 widmet. Ihr Augenmerk gilt den Erinnerungskulturen herero- und deutschsprachiger Namibier. Dabei geht es ihr nicht nur um die Frage, wie sich deren Erinnerungspraxen entwickelt und verändert haben, sondern auch darum, die "Berührungspunkte und Verflechtungen [...] zwischen den beiden Erinnerungsgemeinschaften bzw. Erinnerungskulturen" (16) nachzuzeichnen. Dazu überträgt Förster das Konzept der Verflechtungsgeschichte auf die im doppelten Sinne "geteilte" Geschichte von Deutschen und Herero. [2] So gelingt es ihr nicht nur, die Grenzen zwischen den Erinnerungskulturen, sondern auch Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte offen zu legen.

Regionaler Fokus der Untersuchung ist die Gegend südöstlich des Waterbergs, die im Sommer 1904 zum Schauplatz der militärischen Auseinandersetzungen und Ausgangspunkt der anschließenden Massenflucht und -vertreibung der Herero wurde. Heute leben hier sowohl deutsch- als auch hererosprachige Namibier, deren Lebenswelten sich auch zwanzig Jahre nach Ende des Apartheidregimes nur marginal überschneiden, wie Förster in ihrer Einführung herausarbeitet. Durch die Region verläuft eine über hundert Jahre alte Grenze: Das kommerzielle Farmland im Westen, ein Gebiet, das vor 1904 von Herero und Damara sowie Afrikaanern und Deutschen bewohnt wurde, ist selbst nach der Landreform fast ausschließlich im Besitz weißer, deutschsprachiger Farmer. Im östlich davon gelegenen Kommunalgebiet, dem ehemaligen Waterberg Reserve, leben dagegen, von einigen Ausnahmen abgesehen, nur Schwarze Namibier.

Im ersten ihrer zwei Hauptkapitel, "Erinnerungsorte", veranschaulicht Förster eindrücklich wie sich die räumliche und soziale Segregation in den Erinnerungskulturen niedergeschlagen hat. Rassismus sowie rechtliche und wirtschaftliche Ungleichheiten haben ebenso zur Herausbildung zweier paralleler Erinnerungslandschaften beigetragen wie Unterschiede in den Erzählkulturen, der räumliche Zugänglichkeit von Erinnerungsorten und der tatsächlichen oder gefühlten Verbundenheit mit den Kriegsbeteiligten. Förster deckt aber auch die weniger offensichtlichen Verbindungen zwischen den Erinnerungskulturen auf. Nicht nur gehen die deutsch- und hererosprachigen Ortserzählungen immer wieder auf die jeweils "Anderen" ein, in einigen Fällen verweisen sie auch auf dieselben Orte und Geschehnisse. Im Gegensatz zur Kolonialliteratur lokalisieren sie beispielsweise beide das zentrale Gefecht wesentlich präziser auf dem heutigen Gebiet der Farm Groß-Hamakari. Allerdings fehlt selbst hier eine gemeinsame Sprache, was schon in den unterschiedlichen Bezeichnungen für Orte (Hamakari / Ohamakari) und Ereignisse (Schlacht am Waterberg / Gefecht von Ohamakari) zum Ausdruck kommt. Dass Förster hier auf eine sprachliche Angleichung der Begriffe verzichtet, erschwert zwar an mancher Stelle das Lesen, hebt aber die Bedeutung von Benennungen in Erinnerungsprozessen um so mehr hervor.

Im zweiten Hauptkapitel "Erinnerungsrituale" geht Förster zunächst auf zwei Gedenkfeiern ein, die sich auf ebenjene militärischen Auseinandersetzungen bei Hamakari / Ohamakari beziehen. Deutschsprachige Namibier gedachten bereits ab 1905 am 11. August der "Schlacht am Waterberg", hererosprachige seit etwa Mitte der sechziger Jahre des "Gefechts von Ohamakari". Förster zeichnet erstmals die Geschichte dieser für beide lokalen Gemeinschaften prägenden Rituale nach. Dass es ihr dabei nicht ganz gelingt dem gesamten Zeitraum bis 2003 gleiches Gewicht zu verleihen, ist der Quellenlage geschuldet. Der Schwerpunkt liegt auf der jüngeren Geschichte der Rituale, für das "Waterberg-Gedenken" ab den 1960er Jahren, für den "Ohamakari-Day" ab 1990. Für diese Zeiträume gelingt es Förster vortrefflich, die beiden Erinnerungsrituale mit den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontexten zu verknüpfen, überraschende Querverbindungen wie das gemeinsame Gedenken von Herero und Deutschen in den 1980er Jahren herauszuarbeiten und Prozesse der Reethnisierung auf beiden Seiten nach der Unabhängigkeit Namibias zu kontextualisieren.

Eine Stärke des Buches liegt darin, dass sich Försters Erhebungen in Namibia von 2001 bis in das Gedenkjahr 2004 erstreckten. Im Vorfeld und im Zuge der zentralen Gedenkfeierlichkeiten, die "rückblickend als eine Art Kristallisationspunkt betrachtet werden [können]" (349), traten sowohl die unterschiedlichen Positionen als auch neue Dynamiken im Erinnerungsdiskurs deutlich hervor. Spannend ist insbesondere die Durchsetzung des Genozidbegriffs in weiten Kreisen der hererosprachigen Bevölkerung. Mit dem Begriff werden nicht allein Ansprüche auf Entschädigungszahlungen verbunden, sondern auch das Bedürfnis nach internationaler Anerkennung der Verbrechen, die Abgrenzung von anderen Opfern des Kolonialismus sowie eine Distanzierung von der offiziellen namibischen Erinnerungspolitik. Förster beleuchtet zudem die positive Aufladung des Begriffs als "Beleg für den unbeugsamen Überlebenswillen und die physische und soziale Widerstandsfähigkeit der Herero" (309).

Dass die Gedenkveranstaltungen im Jahr 2004 tatsächlich einen erinnerungskulturellen Wendepunkt markierten, macht auch der abschließende Ausblick auf einige Entwicklungen zwischen 2004 und 2009 deutlich. Er zeigt nochmals auf, dass es sich bei der Beschreibung von Erinnerungslandschaften immer nur um Momentaufnahmen handeln kann, da diese sich fortwährend unter dem Einfluss verschiedener Akteure und politischer Konstellation verändern. Der Befund, "dass kollektive Erinnerungen nicht allein überliefert, sondern immer wieder neu konstruiert werden" (347) ist freilich nicht neu. Was Försters Arbeit jedoch auszeichnet, ist die Präzision, mit der sie die jeweiligen Faktoren herausarbeitet, die diesen Konstruktionsprozess und insbesondere die Wechselverhältnisse zwischen den von ihr untersuchten Erinnerungskulturen beeinflussen. Darüber hinaus ist es ihr gelungen, neben Entwicklungen auf lokaler und nationaler Ebene, auch inter- und transnationale Einflüsse mit einzubeziehen.

Eine abschließende Einordnung der Ergebnisse in die Debatte um transnationale Erinnerung wäre wünschenswert gewesen. [3] Nicht um die Spezifik der Erinnerungskulturen in Namibia einem europäisch geprägten Erinnerungsdiskurs zu unterwerfen, sondern im Gegenteil, um Försters Überlegungen für diesen fruchtbar zu machen. Hier hätten sich Anschlussmöglichkeiten an andere aktuelle Forschungsprojekte auftun können. [4] Insbesondere die Idee der "memory brokers" (347), jener Grenzgänger und Vermittler zwischen den Erinnerungsgemeinschaften, verdient es, weiter verfolgt zu werden. Dies spricht jedoch nicht dagegen, sondern bestätigt vielmehr, dass es sich um eine höchst innovative und zugleich fundierte Arbeit handelt, die hoffentlich zu weiteren Untersuchungen auf dem Gebiet der postkolonialen Erinnerungskultur anregen wird.


Anmerkungen:

[1] Vgl.: Gesine Krüger: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907, Göttingen 1999; Henning Melber: Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M. 2005; Steffi Hobuß / Ulrich Lölke (Hgg.): Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, 2. erw. Aufl. Münster 2007.

[2] Shalini Randeria, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn Rüsen / Hanna Leitgeb / Norbert Jegelka (Hgg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt a. M. 2000, 87-96; Dies.: Zivilgesellschaft aus postkolonialer Sicht, in: Jürgen Kocka et al.: Neues über Zivilgesellschaft. Aus historisch-sozialwissenschaftlichem Blickwinkel, WZB-Arbeitspapier, Berlin 2001.

[3] Vgl. exemplarisch: Daniel Levy / Nathan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001; Claudia Lenz / Oliver von Wrochem / Jens Schmidt (Hgg.): Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Berlin 2002; Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007; Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt a. M. 2008; Claus Leggewie: Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 54 (2009) 2, 81-93.

[4] Zum Beispiel an das Projekt Deutsch-polnische Erinnerungsorte | Polsko-niemieckie miejsca pamięci des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften, http://www.cbh.pan.pl/index.php?option=com_content&view=article&id=46&catid=21&lang=de.

Dörte Lerp