Rezension über:

Barbara Schlieben: Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons' X. (1252-1284) (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel; Bd. 32), Berlin: Akademie Verlag 2009, 346 S., ISBN 978-3-05-004499-6, EUR 69,80
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Rezension von:
Jenny Rahel Oesterle
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Jenny Rahel Oesterle: Rezension von: Barbara Schlieben: Verspielte Macht. Politik und Wissen am Hof Alfons' X. (1252-1284), Berlin: Akademie Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 12 [15.12.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/12/16011.html


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Barbara Schlieben: Verspielte Macht

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Die Ungeschiedenheit von Politik und Wissen am kastilischen Hof Alfons X. (1252-1284) ist die Ausgangsthese der vorliegenden Studie, die hervorgegangen ist aus dem Frankfurter Forschungskollegs "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel" und intensiv verwoben ist mit den Diskussionszusammenhängen des SFB Teilprojekts von Johannes Fried "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel: Der Königshof als Beispiel". Damit ist ein Ansatz gewählt, der die auch heute noch mediävistisch geläufige Trennung beider höfischer Lebensbereiche eskamotiert und ermöglicht, sie im Gang der Untersuchungen der Unangemessenheit sowie wissens- und wissenschaftsgeschichtlicher Historisierungsbedürftigkeit zu überführen. Innerhalb der mediävistischen Hofforschung und speziell der Erforschung des kastilischen Hofs ist dieser methodische Zugriff innovativ: anstelle einer erst aus späteren Ausdifferenzierungs- und Institutionalisierungsprozessen hervorgegangenen Analyse einzelner Segmente oder Verantwortungsbereiche des Hofes wählt Schlieben ein Vorgehen, das die historisch damals bestehenden Interdependenzen zwischen Wissen, Politik und höfischer Gesellschaft freilegt. Der Hof Alfons X. eignet sich dafür aus verschiedenen Gründen. Er ist wie andere mittelalterliche Höfe gleichermaßen Herrschafts- wie Wissenszentrum, jedoch von einem verschiedene Lebensbereiche synthetisierenden "spezifisch spirituellen Weisheitsbegriff" geprägt. Zeitlich fällt sein Wirken in die Umbruchsphase zwischen dem langsam versiegenden Transfer arabischen Wissens einerseits und einer Neuorientierung hin zur "Verwissenschaftlichung Europas in Inhalt, Methode und Institution" andererseits (13).

Einleitend werden zunächst Ansätze mediävistischer Hofforschung abgeklärt, sodann der Ansatz des "New Historicism" im Blick auf sein methodisches Potential für die Erforschung historischen Wissens bedacht. In Anlehnung an Johannes Fried plädiert Schlieben für einen "dynamischen Wissensbegriff" (23), der die spezifisch höfischen Bedingungen der Wissensweitergabe, -produktion und -bewahrung umfasst und sich nicht allein auf das historische Wissen beschränkt, sondern auch andere Wissensgebiete einbezieht.

Die Studie ist in drei Hauptkapitel untergliedert, die kompositorisch gekonnt und argumentativ schlüssig aufeinander bezogen sind. Der erste Teil der Arbeit richtet das Augenmerk auf die Darstellung des kastilischen Herrschers in Quellen aus dem 14. bis 16. Jahrhundert, insbesondere der Crónica de cuatro reges, mit ihren vier miteinander korrespondierenden Chroniken Alfonso X., Sancho IV., Fernando IV, und Alfonso XI, deren bislang wissenschaftlich geschätzte Vertrauenswürdigkeit sie durch Offenlegung ihres Kompositionsprinzips und dessen Zwangsläufigkeiten bei der Urteilsbildung über die Herrscher erschüttert. Damit ebnet sie den Weg zur Genese der Kritik an Alfons X. als eines moralisch defizitären Herrschers und seiner politisch unzureichenden Herrschaft. Es gelingt Schlieben in ihrem interpretativ akribischen Durchgang durch die Quellen mehrerer Jahrhunderte, die Veränderungen der Beurteilung des kastilischen Herrschers wissensgeschichtlich aufzuschließen. Zunächst stehen im 14. Jahrhundert die moralische Verurteilung übertriebener Wissbegier und die Kritik herrscherlichen Versagens nebeneinander. Erstmals führt die in Portugal entstandene Crónica Geral in der Herrscherbewertung die Bereiche des Wissens und der Herrschaft aufeinander zu. Einschneidend und von lang dauernder Prägekraft, die bis in die Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts nachwirkt, ist im 16. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen den kulturellen Leistungen der Wissensvermehrung am Hof Alfons X. und dem angeblichen politischen Versagen des Herrschers. Auf der Basis der einsetzenden Trennung von Politik und Wissen wird in der Herrscherkritik fortan ein Begründungszusammenhang zwischen politischem Scheitern und Wissensförderung hergestellt.

Die Historisierung der Alfons-Deutung zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit bildet die Grundlage für den zweiten Teil der Arbeit, in dem sich Schlieben nun zeitgenössischen Dokumenten im Umfeld des alfonsischen Hofes zuwendet. Herangezogen und erschlossen werden unter dem Vorzeichen der Einheit von Politik und Wissen höfische Text- und Bildquellen unterschiedlichster Art, die bislang von der Geschichtswissenschaft wenig berücksichtigt wurden: Herrscherdarstellungen, Rechtswerke, historiographische und naturwissenschaftliche Texte, Übersetzungen aus dem arabisch-kastilischen sowie kastilisch-lateinischen, schließlich auch Beschreibungen von Brett- oder Würfelspielen, die die Verbundenheit der unterschiedlichen höfischen Lebensbereiche belegen. In einem dritten Großkapitel schließlich richtet die Studie ihr Augenmerk auf die fundamentale Herrschaftskrise, die im Zusammenhang mit dem Verzicht Alfons X. auf die Kaiserwürde in den 1270er Jahren steht. Während bisherige Forschungen diese 'Krise' vor allem politikgeschichtlich und im Bezug auf die Auseinandersetzungen zwischen König und Adel (Krise von Lerma, 1272) deuteten, legt die Autorin den Akzent auf die Frage, wie sich Wissen, Politik und Gesellschaft durch die einschneidenden Ereignisse in den 1270er Jahren veränderten; sie kann feststellen, dass zeitgenössische Quellen im Unterschied zu späteren seit dem 14. Jahrhundert die Kaisertumsproblematik stärker gewichteten. Durch diese Blickverrückung gegenüber gängigen Interpretationen wird erkennbar, wie Wissen und Politik bzw. Herrschaftsanspruch in dieser höchst prekären Regierungsphase kurzzeitig auseinander traten. Durch die gescheiterten Kaiserambitionen Alfons X stand momenthaft ein "universal geprägter Wissensbegriff einem deutlich reduzierten Herrschaftsanspruch" gegenüber, was einen kurzfristigen "politisch-kulturellen Ausdifferenzierungsprozess" (168) zur Konsequenz hatte, der gleichwohl in der Folgezeit rückgängig gemacht wurde und damit die zeitweise Öffnung nach Europa beendete.

Schlieben hat ein gelehrtes, detailgenaues, quellennahes Buch geschrieben, das sich gleichwohl nicht in Einzelheiten verliert, sondern eine große innere Kohärenz und anhaltende reflexive Durchdringungskraft besitzt. Klar ist seine Sprache, transparent sind seine Methoden und die Argumentationsführung. Es ist lesenswert und regt weitere Forschungen an. Seine berechtigte Komplexität ist in der gebotenen Kürze der Rezension kaum einzufangen. Nur eines verwundert. Religion kommt in ihm weder als Terminus vor noch in der Sache, etwa als Widerpart des Wissens und der Politik oder als höfische Lebensgegebenheit im 13. Jahrhundert, obgleich sie doch erhebliche wissensdynamische Effekte auslösen oder hemmen konnte.

Jenny Rahel Oesterle