Madawi Al-Rasheed: A History of Saudi Arabia, 2. Auflage, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XXIV + 317 S., ISBN 978-0-521-74754-7, EUR 18,99
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Die kürzlich erschienene zweite Ausgabe Madawi Al-Rasheeds Buchs über die Geschichte Saudi-Arabiens wurde gegenüber der schon vielgelobten Erstausgabe aus dem Jahre 2002 um zwei Kapitel erweitert. Zusätzlich behandelt wird hier das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, geprägt durch den politischen und ökonomischen Druck, unter den Saudi-Arabien nach den Anschlägen des 11. Septembers unversehens gerät, und die daraufhin halbherzig eingeleiteten Reformen, die doch keinen ernsthaften Wandel bewirken können.
Al-Rasheed setzt mit ihrer Geschichte Saudi-Arabiens an im 18. Jahrhundert, als der lokale Herrscher-Clan Āl Saʿūd sich mit der religiösen Reformbewegung der Wahhabiten zusammentut und sie gemeinsam dem Osmanischen Reich die Stirn bieten, das zu diesem Zeitpunkt bestrebt war, seinen Herrschaftsbereich auch auf der Arabischen Halbinsel auszuweiten. Anschaulich zeichnet Al-Rasheed in den ersten beiden Kapiteln den Weg nach, der erst im Jahre 1932 zu der Gründung eines Staates unter saudischer Herrschaft führte. Kapitel drei bis sechs beschäftigen sich mit der Geschichte von 1932 bis 2000. Ein anschließendes Kapitel ist unter dem Titel "Narratives of the state, narratives of the people" der offiziellen saudischen Geschichtsschreibung und Selbstwahrnehmung gewidmet. Am Beispiel der 1999 stattgefundenen 100-Jahres-Feierlichkeiten von exorbitantem Ausmaß veranschaulicht Al-Rasheed den von der Obrigkeit diktierten Kult um die Person des Staatsgründers Ibn Saʿūd. Das Buch schließt ab mit den beiden neu hinzugekommenen Kapiteln über den Zeitraum bis 2009.
Selbst erklärtes Hauptanliegen der Autorin ist es, mit dem weit verbreiteten Vorurteil aufzuräumen, noch das heutige Saudi-Arabien sei in erster Linie gekennzeichnet durch Beduinentum und Tribalismus. Vielmehr sei die tribale Struktur in großen Teilen der Gesellschaft zu Zeiten der Staatsbildung zwar vorherrschend gewesen, so Al-Rasheed, habe jedoch bei den politischen Prozessen seit jeher nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Da die politische Führung mit der Familie Āl Saʿūd nicht einer der großen Stammesgruppen angehörte, habe sie als Vermittler zwischen den verschiedenen Gemeinden auftreten können und so den Zusammenhalt und die Bedeutung der einzelnen tribalen Einheiten sukzessive geschwächt (8; 68).
Ebenfalls möchte sich die Autorin mit ihrer Studie abwenden von einer Glorifizierung einzelner Personen - ohne dabei die Bedeutung Ibn Saʿūds zu schmälern - hin zu einer Betrachtung des Zusammenspiels von geschichtlichen Ereignissen und gesellschaftlichen Besonderheiten, die nur zusammen genommen zu der Staatsgründung führen konnten. Auch der britische Beitrag hierzu ist nach Ansicht Al-Rasheeds zwar nicht zu unterschätzen, darf aber dennoch nicht losgelöst von den internen Bewegungen betrachtet werden. So sind denn auch die Kapitel und Unterkapitel des Buchs nicht streng chronologisch gegliedert, beispielsweise nach den Regierungszeiten der saudischen Herrscher, sondern es überwiegt eine epochenübergreifende thematische Schwerpunktsetzung, die nicht zuletzt auch den wirtschaftlichen Faktoren immer wieder versucht Rechnung zu tragen.
Schade ist, dass sich Al-Rasheed trotz der erfolgreich vermiedenen Glorifizierung Ibn Saʿūds in ihren Schilderungen des Zeitraums bis zum Jahr 2000 doch sehr auf die Angehörigen der Familie Saʿūd konzentriert. So erfährt man zwar beispielsweise viel über die mehrmals täglich abgehaltenen Versammlungen Ibn Saʿūds, während denen er Volk und Berater anhörte, Macht demonstrierte, wichtige Allianzen erneuerte und den Großteil seiner Regierungsentscheidungen traf. Ebenso wird das Zustandekommen seiner unzähligen Eheschließungen als Instrument der Zementierung bestehender sozialer Hierarchien analysiert. Und auch die schnell formalisierte Gastfreundschaft von überbordendem Ausmaß als wichtiges Element der Staatsführung wird von Al-Rasheed detailreich beschrieben. Das alles sind interessante Beobachtungen und Einschätzungen der Autorin, die viel zu dem Unterhaltungswert des Buches beitragen. Dennoch wäre eine Gewichtung zugunsten von etwas mehr Alltags- und Sozialgeschichte hier wünschenswert gewesen. Allzu wenig erfährt man über Lebensumstände und Auskommen der verschiedenen Gesellschaftsschichten Saudi-Arabiens im 19. und 20. Jahrhundert.
Ganz anders ist es um die beiden Kapitel bestellt, die die Jahre 2000 bis 2009 behandeln und einen hervorragenden Einblick gewähren in die vielfachen Herausforderungen, mit denen Staat und Bevölkerung sich zu Beginn des neuen Jahrtausends konfrontiert sahen. Obwohl politisch gelähmt, da alle auf das bevorstehende Dahinscheiden des gesundheitlich angeschlagenen Königs warteten, war das Land aufgrund sinkender Ölpreise, immensen Staatsschulden und einer 2002 erstmals bezifferten Arbeitslosigkeit gezwungen, einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise zu finden. Gleichzeitig stellte der islamistische Terrorismus ein zunehmendes Problem dar. Ohnehin schon unter internationalem Druck nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde Saudi-Arabien seit 2003 regelmäßig selber Opfer terroristischer Anschläge, denen mit erhöhten Sicherheitsvorkehrungen und einer Vielzahl von Festnahmen Einhalt geboten werden sollte. Al-Rasheeds Zukunftsprognose sieht jedoch düster aus: "[...] yet it is likely that the trend of violence will reappear [...] for a simple reason: the al-Qa'idah ideology is not alien to Saudi Arabia, but stands at the heart of the foundation myth of the state" (233).
Die sachlich argumentierende und überzeugende Studie der Londoner Professorin wird ergänzt durch Karten, Statistiken, eine Zeittafel und Stammbäume der Āl Saʿūd sowie durch einen Glossar der verwendeten arabischen Begriffe und einen ausführlichen Index. Die Bibliographie enthält Titel in arabischer, englischer und französischer Sprache. Obwohl die Autorin einen leichten Sprachstil pflegt und sich mit ihrem Buch offensichtlich an ein breites Lesepublikum wendet, wird an keiner Stelle der Eindruck erweckt, die angenehme Lesbarkeit des Textes könne auf Kosten des wissenschaftlichen Niveaus der Publikation geschehen.
Luise Ossenbach