Rezension über:

Michael Hausmann: Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbüchern der "Annalen" (= Bd. 100), Berlin: De Gruyter 2009, XII + 472 S., ISBN 978-3-11-021876-3, EUR 99,95
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Rezension von:
Mihály Loránd Dészpa
Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Mihály Loránd Dészpa: Rezension von: Michael Hausmann: Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbüchern der "Annalen", Berlin: De Gruyter 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/18075.html


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Michael Hausmann: Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbüchern der "Annalen"

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Charaktere sollten in jeder Szene ein Verlangen haben, so Kurt Vonneguts Rat an junge Schriftsteller, und wenn es nur nach einem Glas Wasser ist. Die Idee, die dahinter steckt, ist, laut der Romancière Malena Watrous, dass unsere idiosynkratischen Wünsche uns oft in spannende Handlungssituationen verstricken. Von dieser Maxime scheint auch Tacitus überzeugt gewesen zu sein. Sein Prinzipat ist von einem einzigartigen Panoptikum seltsamer Charaktere bevölkert, die von grenzenlosem Machtstreben geleitet werden: Augustus der Herrschaftssüchtige, Tiberius der perverse und grausame Tyrann, Livia die böse Stiefmutter, Seianus der machtbesessene Günstling, Germanicus das unschuldige Opfer und Claudius der Narr. Einzeln betrachtet sind es nur banale Stereotypen, das Besondere dieser Welt entsteht allerdings durch die Verdichtung dieser Figuren, die durch ihr Agieren das neue politische System in Rom zu einer Art kuriosem Horrorkabinett werden lassen. All diese Figuren, wie Hausmann in seiner Dissertation herausgearbeitet hat, sind sorgfältig gestaltete, stereotype Charaktere, welche in der Erzählwelt des Tacitus die Matrix bilden, durch die die Handlungen dieser Figuren wahrgenommen und bewertet werden. Diese Erkenntnis lässt jeden Althistoriker erschaudern, da ihm damit die Möglichkeit der Herstellung einfacher Referenzen zwischen diesen Charakteren und den Personen der außertextuellen Welt entzogen wird. Statt mit einer bewegten realen Welt haben wir es jetzt mit einer gründlich inszenierten, dramatischen Realität des Textes zu tun. Dieses Bild scheint Hausmann in seiner Studie zu erhärten. Sein Vorhaben besteht darin, die Techniken der taciteischen Leserlenkung aufzuzeigen und damit einen Blick in die Archäologie der textuellen Realität zu ermöglichen (3). Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten (11-145) werden anhand der Figuren Augustus, Tiberius, Livia, Germanicus und Seian die Kunstgriffe der taciteischen Leserlenkung untersucht. Wichtig sind dabei die stereotypen Charaktere: Augustus ist in seinen wesentlichen Zügen negativ gestaltet. Die Figur Tiberius wird mit dem Tyrannentopos versehen: Sein wahrer Charakter ist schlecht, nur bleibt dieser durch den Druck des sozialen Umfeldes sorgfältig versteckt, und erst wenn dieses nicht mehr gegeben ist, kommt der wahre Charakter zum Vorschein. Ergänzt wird diese Beschreibung durch die blutrünstige Stiefmutter in der Person der Livia, die für die Verwirklichung ihrer politischen Ziele auch nicht vor der Tötung ihrer Stiefkinder zurückschreckt. Hinzu kommt noch die Figur von Seian, der gleich am Anfang des vierten Buches mit den sallusteischen Charaktereigenschaften des Catilina beschrieben und dadurch mit dem Typus des klassischen Verschwörers schlechthin verbunden wird. Am Gegenpol dieses Panoptikums steht mehr oder weniger alleine Germanicus. Er wird mit den positiven Eigenschaften (z. B. civilie ingenium, mira comitas) ausgestaltet, die Tiberius zu fehlen scheinen. Dabei wird nicht nur ein Kontrast erzeugt, sondern gleichzeitig wird aus diesen gegensätzlichen Persönlichkeiten die Handlungsstruktur für die ersten beiden Annalenbücher gewonnen. Tiberius beneidet, fürchtet und hasst Germanicus, handelt in der Öffentlichkeit konträr zu seinen Gefühlen; somit wird der Heuchler Tiberius weiter narrativ ausgestaltet. Die Rolle einer Kontrastfigur kommt auch Augustus zu: Er dient als Folie, vor der sich jener als der noch schlechtere Princeps profiliert, was die Behauptung des Tacitus am Anfang des Buchs (1,7,10) bestätigten soll, dass Augustus seinen Nachfolger aus Ruhmsucht ausgewählt habe. Dieselbe Funktion kommt Augustus in den Claudiusbüchern zu - mit dem Unterschied, dass die vergeblichen Versuche von Claudius, in seine Fußstapfen zu treten, ihn zu einer lächerlich-komischen Figur werden lassen.

Hausmann teilt die Techniken, durch welche Tacitus die Meinungsbildung des Lesers zu beeinflussen versucht, in zwei Grundmuster ein: Solche, die lokal begrenzt sind, d.h. innerhalb eines bestimmten Textabschnitts wirken, und solche, die von kapitelübergreifender Bedeutung sind (142-145). Zu ersteren gehören die alternativen Deutungsmöglichkeiten, die relativierenden Nachträge, die Doppelbödigkeit der Darstellung, die Mehrheitsmeinung der Öffentlichkeit und sprachliche Mittel. Als Mittel der Leserlenkung auf kapitelübergreifender Ebene sieht Hausmann die Nacherzählung von Gerüchten, die Antizipation (damit ist wohl die Prolepse gemeint) und stereotype Charaktereigenschaften.

Der zweite Teil des Buches (149-439) besteht aus einer längsschnittartigen Analyse der Claudiusbücher (ann. 11-13), die ebenfalls im Hinblick auf die taciteische Leserlenkung untersucht wurden. Die Ergebnisse sind wenig überraschend. Tacitus bedient sich auch hier stereotyper Charakterdarstellungen: Claudius der Trottel, Messalina die Triebgierige, Agrippina die machtbesessene Intrigantin und noverca. Die Senatoren aus dem Umfeld des Kaisers werden als dreiste Opportunisten (Vitellius) oder als skrupellose Denunzianten (Suilius) porträtiert. Ein anderes Mittel der Leserlenkung ist der ironische Kontrast, der den Widerspruch zwischen Schein und Sein enthüllen soll. Interessant allerdings ist die Beobachtung von Hausmann, dass Tacitus den Kaiser oft gar nicht beim Namen nennt, wodurch die Verachtung gegenüber dem schwachen Princeps ausgedrückt wird, während er mit seinem Namen in Kontexten genannt wird, in denen er in einem ungünstigen Licht erscheint. Spannend ist auch die Beobachtung, dass der namentlich erwähnte Claudius selten das Agens einer Handlung ist, was das Bild eines machtlosen Princeps noch weiter verschärft.

Zu einigen der von Hausmann unterbreiteten Vorschlägen kann man sich alternative Interpretationen vorstellen. Zum Beispiel mag die Verleihung der Triumphinsignien an Corbulo nach dem Kanalbau (222-31) weniger mit einer Abspeisung und Ruhigstellung des agilen Heerführers zu tun haben, sondern die Absurdität des claudischen Friedenszeitalters hervorheben. Denn Tacitus bringt noch mehr Beispiele für die Verleihung militärischer Auszeichnungen an Feldherren für Arbeiten ziviler Natur (ann. 11,20,3). Dies lässt die Perversion, die ihre Quelle in einem ängstlichen und untätigen Princeps hat, noch sichtbarer werden. Der von Tacitus für die Zeit des Friedens konstruierte sozio-politische Zustand wird vortrefflich durch folgende Sentenz hervorgebracht: industriosque aut ignavos pax in aequo tenet (ann. 12,11-12). Die Dolabella-Szene wiederum dient nicht der temporären Schonung von Claudius (236-41), sondern das Vorhaben Dolabellas passt in den von Claudius erschaffenen sozio-politischen Kontext der erzählten Welt: Leistung kann unter einem trägen Princeps keine Rolle mehr spielen. Der taciteische Dolabella zieht nur die Konsequenz daraus und handelt entsprechend. Bei der Szene der Pomeriumserweiterung ist schwer nachzuvollziehen, warum Tacitus den Kaiser Claudius durch die Erwähnung der Namen Sulla und Augustus als lächerlich darstellen möchte (347-8). Hier wäre viel mehr zu fragen, warum Tacitus diese beiden Namen mit dem Pomerium in Verbindung bringt (umso mehr, da unter Augustus keine Erweiterung des Pomeriums stattfand), und welche Funktion der taciteische Exkurs über das Pomerium im Text erfüllt.

Während wir mittlerweile viel darüber wissen, wie die natürliche Umwelt konstruiert und erklärt wird, sind unsere Erkenntnisse darüber, wie die soziale Welt gestaltet bzw. repräsentiert wird, unbefriedigend. Und hier bietet das Buch von Hausmann leider keine Ansätze, denn statt der innovativen Idee, der Funktion von Narrativen in der Gestaltung des Sozialen nachzugehen, begnügt er sich damit, mit einer unscharfen Methodologie der obsoleten Frage nachzueilen, wie die Erzählung konstruiert ist. Dafür hätte man aber die Frage, warum Tacitus lenkt, anders konzeptualisieren müssen, denn sie erschöpft sich auf gar keinen Fall nur in der Herstellung von Objektivität. Heuristisch sinnvoller wäre es, die Erzeugung von Objektivität in ihrem symbiotischen Verhältnis zur Gestaltung einer bestimmten Realität der erzählten Welt zu erfassen. In dieser Richtung hätte schon eine einfache Taxonomie der Gerüchte und der Deutungen, die Tacitus plausibilisieren möchte, viel gebracht. Von welchen Sinnmustern werden sie strukturiert? Welche Repräsentationen der Welt entstehen dadurch? Wie stehen sie zu Repräsentationen der außertextuellen Welt? So hätte man einige Aspekte der komplexen taciteischen Soziologie des Prinzipats beleuchten können. Darüber hinaus hätte die Anwendung der von der modernen Narratologie bereitgestellten Begrifflichkeit dem deskriptiven Teil der Arbeit sehr gut getan.

Ein Gewinn wäre auch eine bessere Konzeptualisierung des 'Autors' sowie des 'Lesers' gewesen. So wird durch Michael Hausmann dem Leser jegliche Kompetenz aberkannt; er ist den taciteischen Tricks hoffnungslos ausgeliefert. Die zeitgemäße Rezeptionsästhetik samt ihrer Probleme wird somit vollkommen ignoriert, und der Leser des Buches wird folglich auf eine intellektuelle Reise in die Zeit vor der Konstanzer Schule geschickt.

Hausmann bietet eine gute Zusammenfassung der bisherigen Literatur an. Vom theoretischen Zugang her ist das Buch jedoch von ungenügender Komplexität. Der Modus der Beschreibung steht noch in der Tradition des (eher indirekt rezipierten) Formalismus. Und so bleibt am Ende nichts offen: Tacitus lenkt, der Leser folgt ihm - und dementsprechend ist auf dem Gebiet der taciteischen Forschung nichts Neues zu verbuchen.

Mihály Loránd Dészpa