Hans-Peter Hübner / Helmut Braun (Hgg.): Evangelischer Kirchenbau in Bayern seit 1945, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, 260 S., ISBN 978-3-422-06953-4, EUR 29,90
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"Die evangelische Kirche ist heute vor eine Bauaufgabe gestellt, wie sie so umfassend und vielgestaltig in ihrer 400-jährigen Geschichte bisher noch nicht an sie herangetreten ist. Von der Lösung dieser Aufgabe wird das Gesicht der evangelischen Kirche wahrscheinlich auf Jahrhunderte hinaus bestimmt werden." Die 1951 im fränkischen Rummelsberg formulierten Grundsätze markieren eine Wende im protestantischen Kirchenbau. Als eine kritische Revision der zwischen Späthistorismus, Heimatschutz und klassischer Moderne gültigen Positionen reagierten sie, ohne es offen auszusprechen, auf die Verstrickungen der evangelischen Kirchen im Nationalsozialismus. Die seit dem Wiesbadener Programm (1891) und Emil Sulzes Gemeindebewegung forcierte Entsakralisierung der Gottesdiensträume bzw. der oft als "Haus" bezeichneten Ensembles einerseits, die einen auch für Gottesdienste genutzten Raum enthalten sowie die Hoffnung vieler Protestanten auf Restitution des 1919 beendeten Summepiskopats und ihr fataler Irrtum, im Führerprinzip der Nazis die Rückkehr zu alter Macht zu erwarten andererseits, mussten zusammen gedacht werden, auch wenn sie für sich zunächst wenig miteinander zu tun hatten.
Zeichen der historischen Zäsur sind die Trennung lutherischer und reformierter Ansätze und die lutherische Dominanz der Grundsätze in ihrem Bekenntnis zum würdevollen Gottesdienstraum als Ort der "Begegnung der Gemeinde mit dem lebendigen Gott." Die Debatte beschränkte sich nun auch nicht mehr auf die räumlichen Relationen der Prinzipalstücke zueinander und zur Gemeinde. Und selbst der Anhang für die Reformierten signalisiert eine Annäherung an eine abstrakt-moderne ästhetische Konzeption, die dann mit den Wolfenbütteler Empfehlungen (1991) eine bis dahin unbekannte Hinwendung zur Kunst als spirituellem und strategischem Programm erfuhr. Von den Architekten wurde damit die Ermöglichung der räumlichen Bedingungen des Religiösen erwartet. Die beiden Programme bilden die Fluchtpunkte, auf die hin in acht Aufsätzen aus architekturgeschichtlicher, denkmalpflegerischer, theologischer und institutioneller Perspektive sowie in einem Objektkatalog die nach 1945 in Bayern errichteten lutherischen Kirchen und Gemeindezentren bilanziert werden.
Außergewöhnlich bei der an sich eindrucksvollen Zahl von 733 Objekten ist die gegenüber anderen Landeskirchen deutlich geringere Leerstandsproblematik, zumal nach 1980, als fast überall der heutige Status quo erreicht war, noch Dutzende von Kirchen gebaut wurden. Die auf kriegsbedingte Prämissen von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder abhebenden Erklärungen des Buchs für den qualitativen und quantitativen Erfolg dieser Baupolitik greifen daher zu kurz bzw. hatten nach 1970 kaum noch Gütigkeit. Ohnehin entstanden nur wenige Neubauten bzw. moderne Wiederaufbauten anstelle zerbombter Vorgängerkirchen. Sodann blieben gerade Ostbayerns trotz der Zunahme der Evangelischen um 700% aufgrund von Flucht und Vertreibung qualitätvolle Neubauten die Ausnahme. Und die Notwenigkeit von Stadterweiterungen hatte die Bombardierung zwar verschärft, beruhte aber auf der bis heute anhaltenden ökonomisch bedingten Migration.
Es kommen daher mindestens drei weitere Faktoren auf der Ebene der Landeskirche hinzu. 1) Die Gemeindetheologie forderte "überschaubare Gemeinden" von 1000-2500 Mitgliedern. Neue Kirchen entstanden daher auch in Orten mit einer rückläufigen Zahl praktizierender Christen. 2) Der Anspruch auf Kunst: Zunächst spirituell und liturgisch motiviert, sollte mit Kunst der Entfremdung von der Kirche begegnet werden. 3) Der Anspruch auf Bau-Kunst führte zur Auftragsvergabe nach Wettbewerben, bei denen die Landeskirche Vorschlagsrecht hatte und zudem auf exemplarische Resultate hinwies. Insbesondere Gustav Gsaengers und Olaf Andreas Gulbranssons Kirchen stehen für diese materielle Macht von Vorbildern.
Ihre Kirchen in Hirschegg und Rottach-Egern schreiben die Reihe touristisch motivierter Kirchen in katholischen Regionen fort, mit denen die psychologisch schwierige Anpassung ohne Anbiederung und Integration unter Wahrung der konfessionellen Identität einsetzte. Die paradigmatischen Modelle mit entschieden modernen Innenräumen als Emblem des Bruchs mit der Vergangenheit bedienten sich einer formal und/oder materiell integrativen zweiten Moderne ohne Rekurs auf den tradierten Heimatschutz. Das von Otto Bartning entwickelte Notkirchenprogramm von 1946 wies der materiell angepassten Moderne den Weg. Indessen erfährt der Leser über diese Form-Kontext-Konstellationen ebenso wenig wie über die formautonome Semantik, die das in dieser Bauaufgabe so virulente formale Experiment forcierte. Gegenüber der bis 1945 anhaltenden Nationalisierung seit der preußischen Unierung 1817 propagierte die Nachkriegstheologie das Entgrenzung einschließende unsichere Unterwegs-Sein in der Welt. Dafür wurden bedeutungsoffene biblische Metaphern wie Zelt, Schiff oder Arche gefunden, mit denen sowohl eine neue Typologie des Kirchenbaus als auch trotz des oft intendierten Angleichs an die Wohnbebauung die Autonomie eines als heterotop markierten Kirchenraums gelang.
Diese Architektursemiotik und ihre Gründe werden dem Leser vorenthalten, wie ihm auch kein Ariadnefaden durch einen schwer überschaubaren Gestaltungs- und Funktionspluralismus gereicht wird. Und nur zurückhaltend klingt an, wie sehr - auch als Ausdruck einer ökumenischen Konvergenzbewegung - die Hinwendung zur Moderne von den puristischen Räumen Rudolf Schwarz' und Emil Steffanns lernte. Die Defizite resultieren nicht zuletzt aus dem Fehlen eines eigenen Beitrags gerade zur Hauptzeit von 1950-1980. Die Stärken liegen dagegen in der Dokumentation, die mitunter den Rang von historischen Quellen haben sowie in der institutionellen und theologischen Kontextualisierung.
Peter Poscharsky macht in seinem Überblick über den lutherischen Kirchenbau in Bayern bis 1945 indirekt klar, welchen Einschnitt die Nachkriegszeit bedeutete, wenn um 1930 selbst die verhaltene Annäherung an die neusachliche Moderne bei German Bestelmeyer und Theodor Fischer Ausnahmen blieben. Wie Ulrich Kahle zeigt, markierte erst die Neubauwelle seit 1950 den Wendepunkt. Davor dominierte der Wiederaufbau, der bei architekturgeschichtlich kanonisierten Kirchen am Rekonstruktionspurismus festhielt, während weniger prominenten historischen Kirchen in unterschiedlichen Abstraktionsintensitäten die Entstehungszeit anzusehen ist. Eine Synthese aus Rekonstruktion und moderner Ergänzung wurde fast nur bei historistischen Kirchen praktiziert. Für die vom Leser letztlich selbst zu leistende Erzählung zum Kirchenbau nach 1950 wird eine gut bebilderte Dokumentation von 57 exemplarischen Bauten angeboten, die mehr auf Vielfalt als auf Kontinuität und Kohärenz zielt. Dazu zählen die in Bayern entweder weniger häufigen oder in der Dokumentation unterrepräsentierten Gemeindezentren. Ihre als Effekt eines anthropologischen Theologieansatzes erneut säkulare Baugestalt kritisieren die Wolfenbütteler Empfehlungen indirekt.
Zum Verständnis der wichtigsten Jahrzehnte tragen jedoch diejenigen Aufsätze bei, die sich mit den Bedingungen befassen. Werner Hofmann erläutert etwa prägende institutionelle Faktoren des Kirchenbaus nach 1945 wie Bauprogramm, Architektenwahl, Planung und Finanzierung.
Während der architekturtheoretische Text Hans Busso von Busses im Bekenntnis zum Zentralraum und in der Auffassung von Architektur als zeitgemäßer Ausdrucksträger in der Tradition der klassischen Moderne steht, gehen die theologisch argumentierenden Beiträge über diese eher abbildende denn aktivierende Auffassung von Kirchenräumen hinaus. Als Einführung skizziert Susanne Breit-Keßler ein Programm für Kirchenräume in der Gegenwart. So sehr sie Sakralität im Titel betont, "geistlich erhebende Räume" (statt Multifunktionsräume) fordert und eine - empirisch kaum zu belegende - "Sehnsucht nach dem Heiligen" behauptet, so wenig werden Wesen und Funktion des Sakralen eines Sakralraums konkretisiert. Sie begreift Kirchen vielmehr als Erinnerungs- und Kunstorte, die über Leben und Tod aussagen. Es entsteht dabei der Eindruck, als würden sie ein Eigenleben parallel zu ihrer Primärfunktion im Gottesdienst führen. Wenn Menschen "Orte wie Kirchen" brauchen, liegen gegenüber dieser relativierenden These zwei gegenläufige Fragen auf der Hand: Gegen welche vergleichbar heterotope Orte können Kirchen eingetauscht werden? Wird andererseits dem Kirchenraum als existentiell begriffener Ort nicht zuviel Verantwortung zugemutet? Soll dabei Erinnerung etwas anderes sein als Erfindung von Vergangenheit, tut jedenfalls Historisierung not, die etwa besagt, dass zwischen einem ökonomischen Pragmatismus und einer formalen Profanierung keine generell gültigen Gleichungen bestehen.
Bartnings serielle Notkirchen waren spirituell fordernder als der großbürgerliche Habitus multifunktionaler Gemeindehäuser vor 1939. Und seine Kölner Pressakirche von 1928 war gewiß kein Vertreter des Wiesbadener Programms, sondern ein die Rummelsberger Grundsätze vorwegnehmendes Bekenntnis zum Sakralraum, der mit minimalen Änderungen katholischen Vorstellungen genügt hätte.
Klaus Raschzoks programmatische Perspektivierung des lutherischen Kirchenbaus bildet das Herzstück des Buchs und schließt auch die offenen Punkte Breit-Keßlers. Auf der Basis kulturwissenschaftliche Körper- und Dingdiskurse erörtert er die Rummelsberger Grundsätze und die folgenden Variations- und Distanzierungsversuche bis hin zu einem Konzept, das im Gottesdienst die symbolische Anwesenheit Christi feiert. In dieser Annäherung an katholische Positionen, die Raschzok am deutlichsten ausspricht, setzt sich die bereits 1951 erfolgte Relativierung der Predigt zu einem integralen Bestandteil eines "Voll-Gottesdienstes" fort, der nun um Prozesse von Gemeinschaft erweitert wird. Mehr noch: Das neue Gottesdienstverständnis wird mit demselben richtungweisenden Begriff 'circumstantes' bezeichnet, den Dominikus Böhm und Martin Weber 1923 ihrem Modellfall einer Kirche gaben, in der die eucharistisch bestimmte liturgische Bewegung mit ihrer Forderung nach aktiver Partizipation im Gottesdienst ihre bauliche Choreografie erfuhr. Das Pendel, das in den evangelischen Konfessionen zwischen einem Bedürfnis nach sakraler Atmosphäre (= Nähe zu katholischen Positionen) und multifunktionalen Gemeindebauten (= Ausdruck von Autonomie) schwingt, geriet zuletzt sogar über die katholische Praxis hinaus. Architektur und bildende Kunst sollen die Gemeinschaftsbildung und die Qualität des Gottesdienstes verstärken sowie nach außen hin werben. An die Stelle der einst notorischen Skepsis scheint eine vergleichbar komplexitätsreduzierte Affirmation getreten zu sein, die Kunst als Instrument begreift, kirchenferne Menschen in die Kirchen zu holen (und in der Hoffnung auf Nebeneffekte dem touristischen Konsumanspruch stattgibt) und Kirchgängern Kunst als Katalysator religiöser Erfahrung offeriert. Wo unklar ist, wo Kunst Mittel und wo sie schon Ziel ist, werden Systemgrenzen zwischen den gesellschaftlich gegenläufig bewerteten Bereichen Kunst und Religion unscharf.
In Anlehnung an Wolfgang Meisenheimers rezeptionsästhetisch und korporal angelegter Architekturanthropologie entwirft Raschzok Sakralarchitektur nicht als Ort audio-visueller oder gar nur auditiver Repräsentation im Gottesdienst, sondern legt das Wahrnehmungs- und Gestaltungsvermögen des ganzen Körpers auch über den Gottesdienst hinaus zugrunde. Er betont dabei die aktuelle Tendenzen überdauernde Langfristigkeit von Kirchenräumen, gerade wenn sie einem Qualitätsanspruch verpflichtet sind. In der Forderung nach einer der Kunst gemäßeren Zeitdimension distanziert er sich von den fortgesetzten Debatten, die ihren Niederschlag im Kirchenbau erwarten, und fordert für die Sakralarchitektur mehr Respekt als eigenständigen Faktor im System der christlichen Religion protestantischer Prägung ein. Zugleich relativiert er das auf Cornelius Gurlitt zurückgehende Dogma der 'Liturgie als Bauherr' für den modernen Kirchenbau. Raschzoks Auffassung von der Liturgie als Dialogpartnerin besagt, dass die Gestalt des Kirchenbaus einem systemischen Prozess unterliegt, in dem die Architektur mehr ist als Illustration funktionaler Konzepte. Um dieses Potential als produktiver Akteur der "Glaubens- und Lebensgestaltung" zu entfalten, bedarf es, wie er folgerichtig fordert, einer alltagspraktischen Konsequenz: der radikalen Änderung der Öffnungszeiten. Darüber würden sich auch Kunsthistoriker freuen.
Jürgen Wiener