Rezension über:

Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf Harnack 1875-1889, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, XI + 502 S., ISBN 978-3-16-150132-6, EUR 99,00
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Rezension von:
Martin Ohst
Fachbereich A (Ev. Theologie), Bergische Universität Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Martin Ohst: Rezension von: Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf Harnack 1875-1889, Tübingen: Mohr Siebeck 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/03/18115.html


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Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf Harnack 1875-1889

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Nur selten beendet man die Lektüre eines wissenschaftlichen Werkes mit Wehmut, weil man gern noch weiter gelesen hätte. Bei dieser Edition ist das aber der Fall.

Albrecht Ritschl (1822-1889) hatte sich in langen Jahren konzentrierter Denk- und Forschungsarbeit in Fachkreisen als scharfsinniger, meinungsfreudiger Exeget und Kirchenhistoriker bekannt gemacht - er wusste, wovon er sprach, wenn er einem Jüngeren gegenüber "Sitzfleisch und ordentliche Arbeit" (79, Anm. 397) einforderte. 1874 publizierte er den dritten Band seines epochalen Hauptwerks "Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung", zugleich erschien als kurze, für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe bestimmte Zusammenfassung seiner theologischen Position der "Unterricht in der christlichen Religion", und ein Büchlein über Schleiermachers "Reden" markierte brüsk die Distanz zum wichtigsten protestantischen Theologen des 19. Jahrhunderts. Ritschls theologisches Programm war nun deutlich sichtbar: Gestützt auf die richtig verstandene Bibel und die Grundeinsichten der Reformation, sollte die christliche Religion als gerade unter neuzeitlichen Bedingungen überzeugender Gesamtentwurf zur Deutung und Orientierung individuellen wie sozialen Lebens zur Geltung gebracht werden. Dazu wollte Ritschl die genuin christlichen Gedankenmotive und Wahrnehmungsstrukturen von der "natürlichen Theologie" absetzen. Darunter subsumierte er antike kosmologische und metaphysische Gedankenkonstrukte, welche einst der christlichen Religion zur Selbstverständigung und zur Apologetik gedient hatten und mit ihr seither förmlich verwachsen waren. Hier liegen Wurzeln von Harnacks "Hellenisierungsthese", über die noch gegenwärtig räsoniert wird, immerhin auch vom amtierenden Stellvertreter Jesu Christi - oft allerdings mit mehr Eifer als Verständnis.

Damit waren heftige Konflikte programmiert. In den konservativen theologischen Richtungen fand Ritschl Widerspruch als Reduktionist, der der christlichen Religion die Fundamente ihrer umfassenden Welt- und Geschichtssicht wegziehe und sie moralistisch entstelle. Aber auch zur freien Theologie, in der Ansätze aus der Blütezeit des Idealismus wirkten, gestaltete sich das Verhältnis polemisch, obwohl oder weil Ritschl selbst durch den theologischen Hegelianismus gegangen war (400): Die "Liberalen" bemängelten Ritschls Positivismus als Akkommodation an konservative Erwartungen.

Positive Resonanz fand Ritschl vorwiegend bei Jüngeren. Der bedeutendste unter ihnen war Adolf Harnack (1851-1930). Frisch habilitiert, besuchte er 1874 Ritschl in Göttingen, und im Herbst 1875 begann der Briefwechsel. Was davon erhalten ist, liegt im Harnack-Nachlass - 228 Stücke, vom mehrseitigen Brief bis zur rasch hingeworfenen Postkarte. Die Umgangsformen der Zeit werden streng gewahrt; es bleibt beim "Sie", und Harnack redet Ritschl auch noch als Ordinarius mit "Herr Professor" an.

Beide waren kommunikative Menschen, die viel reisten und erstaunlich reiche Korrespondenzen führten. Bei einander fanden sie besondere Möglichkeiten der unbefangenen Aussprache auch über Persönliches, die sich ihnen anderweitig nicht auftaten (178; 393; 444). Dennoch: Es handelt sich vorwiegend um die Korrespondenz zwischen "Fachmenschen". Zwar werden die Verhältnisse und Ereignisse in den Familien erörtert (besonders schön: Ritschls Glückwunsch zu Harnacks Hochzeit; 238), aber anderes fällt aus: Politik kommt nur als Kirchenpolitik vor. Kulturelle Interessen blitzen nur in literarischen Zitaten und Anspielungen auf - Reminiszenzen an Fritz Reuters "Stromtid"-Roman (224; 476) verbergen sich auch hinter rätselhaften Ausdrücken wie "Vocativus" (334) und "Wasserkunst" (400); auf die "farcimina" / Würste (417) vermag ich mir allerdings keinen Reim zu machen.

Ohne den Jüngeren jemals distanzlos zu vereinnahmen, ist Ritschl zumeist der mitteilsamere der beiden Briefpartner. Seinem kaustischen Witz, der in seinen literarischen Werken eher selten durchblitzt, lässt er immer wieder genüsslich die Zügel schießen; ein reiner Lektüregenuss sind seine Schilderungen langer Gespräche mit Döllinger (295ff.). Harnack bekundet dem Älteren oft genug seine Dankbarkeit für Anregungen und Klärungen (328), aber er lässt von Anfang an (133) keinen Zweifel an seiner Selbständigkeit aufkommen.

Die entspannte Atmosphäre des Briefwechsels rührt auch daher, dass beide unterschiedliche Felder beackerten: Ritschl arbeitete an seiner dreibändigen Geschichte des Pietismus (1880-1886); mit dieser großartigen kritisch-historischen Leistung verband er kathartische Erwartungen im Sinne seines Programms des durch die Besinnung auf seine Ursprünge zu erneuernden Selbstverständnisses des Protestantismus. Harnack bekundete lebhaftes Interesse an Ritschls Mitteilungen hierüber, arbeitete sich jedoch selbst voller Fleiß und Begeisterung in die frühe Kirchengeschichte ein - einen Bereich, in dem Ritschl einst wichtige Forschungsarbeit geleistet hatte (318f.; 325), der aber nun doch schon seit Jahrzehnten an den Rand seiner Interessen gerückt war. So freuten sich beide jeweils aus ihren durch die Tagesarbeit geprägten Perspektiven heraus ihrer Übereinstimmung in den entscheidenden kategorialen Leitgesichtspunkten ihres Tuns (319).

Das, was sie sachlich vertraten, wollten sie auch durchsetzen, und darum nehmen Fakultätspolitik und publikationsstrategische Überlegungen breiten Raum ein. Ohne jemals falsche Demut und Bescheidenheit zu heucheln, brachte Ritschl seine Ziele und Einsichten zur Geltung; er freute sich unbefangen über Zustimmung und ärgerte sich über Widerspruch. Harnack urteilte bisweilen milder und differenzierter (74ff.; 269f.; 388f.), aber insgesamt könnte über diesen Passagen des Briefwechsels als Motto Matthäus 12,30 stehen.

So bleiben sachliche Differenzen zwischen den Briefpartnern über weite Strecken hin unsichtbar. Aber es gab sie, und zwar hatten sie ihr Zentrum in der Frage, ob und in welchem Maße die Erstgestalt der christlichen Religion zugleich auch ihre Normgestalt ist: Ritschl sah diese Koinzidenz in bestimmten Zentralbeständen des Neuen Testaments als gegeben an, während Harnack auch hier zeitgeschichtlich bedingte Erscheinungsformen wahrnahm, die das dauerhaft gültige Wesen des Christentums in sich zugleich bergen und verbergen. In seiner Rezension der 3. Auflage von Ritschls "Unterricht" hat Harnack diese Differenzen deutlich markiert (484ff.). Dritten gegenüber hat Ritschl, gesundheitlich angeschlagen und depressiv gestimmt, seinem Ärger darüber Luft gemacht (2f.); die Freundschaft hat trotzdem gehalten. Harnack selbst und jüngere Schüler und Enkelschüler Ritschls haben die in der Rezension angedeuteten über Ritschl hinausweisenden kritischen Fragestellungen weiter verfolgt. Dessen ungeachtet hat Harnack Ritschl lebenslang ein treues, dankbares Andenken gewahrt.

Der Briefwechsel ist ganz vorzüglich ediert. Weinhardt hat zur Kommentierung eine große Fülle von unpublizierten Briefwechseln und Aktenbeständen herangezogen (beispielhaft 153-158). Immer wieder staunt man über seinen Sucherfleiß und sein Finderglück! Der Anhang, der u.a. Harnacks Rezension von Ritschls "Unterricht" bietet, ist eine wertvolle Beigabe. Ein eiliger Leser, der nur bestimmte Einzelinformationen sucht, wird Weinhardt für die vorzüglichen Register und Tabellen dankbar sein. Und der Abschied von diesem Buch wird durch Weinhardts Versprechen (1) erleichtert, dass seine Edition des Briefwechsels zwischen Ritschl und Wilhelm Herrmann in absehbarer Zeit ebenfalls erscheinen soll.

Martin Ohst