Kerstin Armborst-Weihs / Judith Becker (Hgg.): Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Beiheft 79), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, VII + 301 S., ISBN 978-3-525-10096-7, EUR 52,00
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Wer Zusammenhänge zwischen Geschichtsbewusstsein und Konfession in der Vergangenheit erforscht, betreibt zugleich eine gegenwärtige Standortsuche. Diese betrifft erstens das Verhältnis von konfessionell gebundener und 'profaner' Historiografie; sein Wandel ist nicht nur einer (hierzulande) fortgeschrittenen Säkularisierung des Wissenschaftsbetriebs, sondern auch den zunehmend mitgedachten Bezügen zwischen Konfession(en) und Kultur(en) geschuldet. Zweitens erfolgt die Standortsuche im Kontext öffentlicher Debatten über Religion, religiöse Identität und Toleranz gegenüber religiöser und kultureller Alterität - und zwar angesichts globaler Konfliktlagen, wie Christoph Schwöbel mit seinem systematischen Beitrag zu Beginn des vorliegenden Bandes klarstellt. Fragen nach Toleranz und Identität müssen daher "im globalen Kontext reflektiert werden" (8).
Der aus einem Kolloquium im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Wertewandel und Geschichtsbewusstsein" am Mainzer Institut für Europäische Geschichte hervorgegangene Band begrenzt indessen die zeitliche Tiefe und den räumlichen Radius der Suchbewegung. Er behandelt im ersten Teil drei Religionen (Christentum, Judentum und Islam) und im zweiten und dritten dann Katholizismus und Protestantismus mit ihren jeweiligen "Themen" und "Werken" seit der Frühen Neuzeit. Mit zwei Ausnahmen (Mariano Delgado analysiert die spanische Geschichtsschreibung zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert, Irene Dingel die französischen Enzyklopädien der Aufklärungszeit) beschränken sich die Beiträge auf den deutschsprachigen Raum.
Auf diese Weise setzen die Herausgeberinnen von vornherein deutliche Schwerpunkte. So orientieren sich die drei Studien von Klaus Fitschen (zum neueren Katholizismus in der protestantischen Geschichtsschreibung), Johannes Wischmeyer (über die Päpstegeschichten Leopold von Rankes und Ludwig von Pastors) und Bettina Braun (über die Lehrbücher der Theologen Albert Hauck und Heinrich Brück) mehr oder minder explizit am Konfessionalisierungsparadigma. Auch Susan R. Boettcher verweist in ihrer Untersuchung des Reformationsbiographen und Heimatforschers Johann Georg Leuckfeld auf den Referenzrahmen eines "ersten" und "zweiten konfessionellen Zeitalters", zwischen denen sie ihren Beitrag ansiedelt.
Die Homogenität hat freilich ihren Preis. So klammert der Band weniger kanonische Forschungsfelder, wie religiös fundierte Geschichtsdiskurse und Identitätskonstruktionen, die nicht von (wissenschaftlich) institutionalisierten Kreisen getragen wurden, weitgehend aus. Abgesehen von zwei Beiträgen, in denen Franziska Metzger den Ansatz der entangled history für die neuere Schweizer Kirchengeschichte fruchtbar zu machen sucht und Matthias Pohlig den "überkonfessionellen Momenten" in "konfessionalisierten" Texten nachspürt, bleiben auch unkonventionellere Zugangsweisen außen vor.
Die Erforschung von Toleranz und Identität kommt nicht ohne die (unzulänglich erforschten) Freikirchen und Bewegungen aus. Diese befanden sich während der Frühen Neuzeit fast überall in einer prekären Situation und überdauerten diese vielfach nicht; ihre Rolle in konfessionellen Differenzierungsprozessen wird erst in jüngster Zeit beachtet. In diesem Band sind sie in Michael Driedgers Abriss der Kategorisierungsversuche protestantischer Heterodoxien, speziell der Täufer, vertreten (Pietisten, Spiritualisten und Quäker werden beiläufig erwähnt). Driedger liefert Hinweise, wie gerade Minderheiten ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein entwickelten. Zugleich forderten und begründeten sie angesichts selbst erfahrener Verfolgungen bereits recht früh religiöse Toleranz - wenn sie diese nicht sogar in den Mittelpunkt ihrer Identitätskonstruktionen stellten. Dies belegen auch Beispiele aus der jüdischen Geschichtsschreibung (in Andreas Gotzmanns Lektüre jüdischer Historiografie als Gegenentwurf zu christlichen master narratives) und den französischen Enzyklopädien (mit dem von Irene Dingel behandelten hugenottischen Gelehrten Pierre Bayle). Richtig virulent, das haben neuere Arbeiten gezeigt, werden historisch fundierte Identitätskonstruktionen allerdings im Kontext der hier unberücksichtigten Missionen und Migrationen [1], deren Problematiken die aktuelle Konjunktur von Toleranz und Identität als Forschungsthemen maßgeblich ankurbeln.
Im Gegenwartsbezug dieser Themen erkennt Christoph Schwöbel denn auch eine wichtige Aufgabe: Im transkonfessionellen Dialog gelte es, statt der häufig beschworenen "Grundwerte" gemeinsame Ziele anzuvisieren und Toleranz - konsequent verstanden als das "Ertragen von Differenz" (7) - aus den religiösen Traditionen heraus im Sinne einer "Toleranz aus Glauben" (25) zu begründen, ohne dabei den eigenen, konfessionell spezifischen Wahrheitsanspruch aufzugeben.
Die Auffassungen der Beiträgerinnen und Beiträger variieren hinsichtlich des historiografischen Umgangs mit dieser Aufgabe. Sie sind sich darin einig, der Einfluss außerkonfessioneller Faktoren auf Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktionen habe seit der Reformation tendenziell zugenommen. Mit Blick auf die eigene Tätigkeit setzen sie jedoch unterschiedliche Akzente. So plädiert Wolf-Friedrich Schäufele in seiner Untersuchung von Mittelalterbildern in der Kirchengeschichtsschreibung für eine intensivere Historisierung des Mittelalters und der Reformation, ohne jedoch (bei aller ökumenischen Annäherung) die konfessionelle Position ganz zu verlassen. Wolfram Kinzig appelliert am Ende seiner Bestandsaufnahme über Darstellungen des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum an künftige Lehrwerke, sich dezidierter als bisher den gemeinsamen Wurzeln zu widmen. Matthias Pohlig konturiert die "Grenzen der Abgrenzung": Da überkonfessionelle Elemente keiner polemischen oder apologetischen Intention folgen, wertet er sie als Indiz für die "Eigenlogik von Texten und Textgattungen" (203), die sich nicht anhand der Anschauungen ihrer Urheber, sondern nur durch Einzeltextanalyse bei zielstrebiger Kontextualisierung erschließe. Michael Driedger schließlich begrüßt die kritische Reflexion gängiger Konzepte wie "Konfessionalisierung" oder "Radikalität" und die Berücksichtigung von "Außenseitern des Westfälischen Friedens" (192) als Ansätze zur "Entkonfessionalisierung der Forschung über konfessionelle Themen" (194).
Bleibt dieser Band insgesamt auf dem Boden bewährter Forschungstraditionen verankert, so wird doch deutlich, wo die künftigen Herausforderungen der eingangs skizzierten doppelten Lagebestimmung liegen. Ihr Erfolg wird am Ende wohl auch von der Bereitschaft abhängen, sich von diesen Traditionen zu lösen, um das offene Terrain der Forschungsdesiderate zu erkunden. Eine konsequent transnationale (wo nicht gleich globale) Perspektive dürfte dies begünstigen.
Anmerkung:
[1] Das Fehlen erklärt möglicherweise eine Publikation aus derselben Reihe, die diese Aspekte ausführlich behandelt: Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hgg.): Religion und Mobilität. Zum Verhältnis raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte; Beiheft 81), Göttingen 2010.
Sünne Juterczenka