Rezension über:

William Mulligan: The Origins of the First World War (= New Approaches to European History; No. 43), Cambridge: Cambridge University Press 2010, VIII + 256 S., ISBN 978-0-521-71394-8, EUR 14,99
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Rezension von:
Sönke Neitzel
Universität Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Sönke Neitzel: Rezension von: William Mulligan: The Origins of the First World War, Cambridge: Cambridge University Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/18163.html


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William Mulligan: The Origins of the First World War

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Lange Zeit war es in der internationalen Forschung ein Allgemeinplatz, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges als geradezu unvermeidbares Ereignis zu betrachten: Gleichsam als eine logische Folge des Zusammenbruchs des internationalen Systems, als Folge von innenpolitischen Problemen, von Fehlentscheidungen einzelner Politiker oder Monarchen - je nachdem welche Perspektive man einnahm.

Vor rund zehn Jahren kam es in Mode, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 eher als überraschendes, geradezu zufälliges Ereignis zu interpretieren. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, auf der Suche nach einer schlüssigen Erklärung für den Kriegsausbruch mit dieser Deutung wieder am Anfang angekommen zu sein; bei David Llyod Georges Einschätzung, dass man 1914 in den Krieg "hineingeschlittert" sei.

Der Dubliner Historiker William Mulligan, reiht sich mit seiner flüssig zu lesenden Studie in diese Schule ein. Und er hat zweifellos ein wichtiges Buch vorgelegt, das einen souveränen Abriss des geopolitischen Denkens, der Rolle des Militärs und des Kriegsbildes, der öffentlichen Meinung und der Wirtschaft der Jahre von 1870 bis 1914 bietet. In der Tat muss man sich fragen, ob Historiker die von ihnen analysierten Epochen und Ereignisse nicht zu oft vom Ende her interpretieren und damit unwillentlich einen klassischen Rückschaufehler begehen: dass es ja von vornherein klar gewesen sei, dass es so kommen musste. Mulligan plädiert dafür, die Geschichte der Internationalen Beziehungen vor 1914 nicht nur als Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges zu lesen. Denn eine teleologisch verengte Perspektive rücke in den Hintergrund, dass das Internationale System 44 Jahre lang den Frieden aufrechterhalten und der Welt damit eine der längsten Friedenperioden der Moderne beschert habe. Der Verfasser will daher die Zeit vor 1914 auch als Erfolgsgeschichte gewertet wissen. Schließlich sei das System trotz der enormen Herausforderungen der politischen und ökonomischen Globalisierung aufrechterhalten worden. "Great powers were compensated for the gains their rivals made", so dass "by 1911/12 most major imperial disputes had been resolved" (230). Zugleich sei unübersehbar, dass mit Ausnahme von einigen Radikalen nur wenige den Krieg wollten. Die europäischen Gesellschaften seien keine "militarist camps" gewesen. Mulligan sieht das Internationale System vor dem Ersten Weltkrieg auch als ein Beleg dafür, dass in der Moderne Großmachtkriege eher vermieden wurden. Daraus ergeben sich für ihn Kontinuitäten über 1914 hinaus, etwa in der Form, dass nach 1945 in mancherlei Hinsicht auch an die Prinzipien des langen 19. Jahrhunderts angeknüpft werden konnte.

Allerdings muss irgendetwas dann ja doch schiefgelaufen sein. Mulligan erkennt im Herbst 1913 eine wichtige Katalysatorphase. Aus Angst den Großmachtstatus zu verlieren, wurde in einigen europäischen Hauptstädten der Entschluss gefasst, zukünftig außenpolitisch entschiedener aufzutreten. Eine wichtige Weichenstellung, die den Krieg schließlich möglich gemacht habe, so Mulligan. Wahrscheinlich sei er aber dennoch nicht gewesen, denn keiner habe den Krieg, gewollt, obgleich alle bereit gewesen seien, ihn im Sommer 1914 zu riskieren.

Dies ist freilich der springende Punkt. Die These, dass ein Krieg 1914 noch nicht einmal wahrscheinlich gewesen sei, verkennt meines Erachtens, dass Botschafterkonferenzen, bilaterale Absprachen und Verträge sowie multilaterale Bündnisse die Probleme allenfalls oberflächlich lösen konnten. Keine der zahlreichen Krisen seit 1905 hat die Gegenstände der Dispute wirklich dauerhaft aus dem Weg schaffen können - und wenn dann nur um den Preis einer massiven Verstimmung mindestens einer Partei, meistens der Deutschen, der Österreicher oder der Russen. Jeder fühlte sich (permanent) als Verlierer und erhielt für diplomatische Rückzüge keinesfalls Kompensationen, die diesen Namen verdienten. Dampf konnte so nicht aus dem Kessel gelassen werden. Im Gegenteil, der Druck stieg, zunächst nur langsam, gewiss, dann aber doch immer schneller. War etwa die Bosnische Annexionskrise eine wirkliche "Lösung", oder die Zweite Marokkokrise oder die Balkankriege? Eine friedlich verlaufene Julikrise hätte kein Problem in Europa lösen können: Nicht das österreichisch-serbische und auch nicht das durch die deutsch-britischen Verträge über das Zweistromland und die portugiesischen Kolonien von 1913/14 im Kaiserreich wachsende Gefühl außenpolitisch nur noch eine Juniormacht zu sein.

Die Handelnden hatten kein Konzept, wie die divergierenden Interessen der Großmächte in Einklang zu bringen waren. Sie waren im Zweifelsfall darauf aus, mit Machtdemonstrationen und taktischen Finessen, den diplomatischen Gegner auszumanövrieren. Konstruktiv war das gewiss nicht. Und auch William Mulligan vermag nicht aufzuzeigen, wie man sich das friedliche Miteinander der Großmächte vorzustellen hätte, wenn der Krieg im Sommer 1914 nicht ausgebrochen wäre. Die Trockenlegung der Problemzone Balkan war überhaupt nicht abzusehen: Wie sollte der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien gelöst werden? Serbiens Drang an die Adria war 1913 zweifellos nur aufgeschoben.

Vor allem ist fraglich, ob "the resolution of crises around the globe schooled a generation of diplomats in managing confrontations between the great powers" (230). Dem Rezensenten scheint freilich eher das Gegenteil der Fall zu sein: Ein Blick in die Nachlässe deutscher Diplomaten zeigt zumindest, dass diese immer weniger daran glaubten, mit diplomatischen Mitteln einen Ausweg aus der vermeintlich festgefahrenen Situation zu finden und daher zunehmend auf die militärische Karte setzten. In anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien, ist es wohl ähnlich gewesen.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist mittlerweile in jeder denkbaren Variante durchdacht und facettenreich analysiert worden. William Mulligan hat die souveräne Synthese einer Perspektive vorgelegt. Seiner Studie ist daher eine weite Verbreitung zu wünschen. Eine Einigung auf eine abschließende Erklärung, warum 1914 der Weltkrieg ausbrach, wird sich schwerlich finden lassen. [1] Diese Erkenntnis scheint mittlerweile weithin akzeptiert und dies mag ein Grund dafür sein, dass die Ereignisse von 1914 heute, anders als vor fünfzig Jahren, in der Forschung sachlich diskutiert werden. Angesichts der nun vorliegenden Zusammenfassungen [2] scheint momentan zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges alles gesagt zu sein. Hoffnungsvoll darf man nun auf die Erschließung neuer Quellen warten - nous verrons.


Anmerkungen:

[1] So zuletzt Jürgen Angelow: Schritt aus der Zivilisation - Forschungen, Fragestellungen und Neudeutungen zum Kriegsausbruch von 1914, in: Bernd Heidenreich / Sönke Neitzel (Hgg.): Das Deutsche Kaiserreich 1890-1914, Paderborn 2011 (im Druck).

[2] Vgl. auch Jürgen Angelow: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 - 1914, Berlin 2010.

Sönke Neitzel