Martin Aust / Krzysztof Ruchniewicz / Stefan Troebst (Hgg.): Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 285 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20292-7, EUR 33,90
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Während in Deutschland, ausgehend von den Impulsen der lieux de mémoire Pierre Noras und des Gießener Sonderforschungsbereiches 434 "Erinnerungskulturen", die Untersuchung von Erinnerungskulturen ihre Kulmination schon erlebt hat, gewinnt in Polen dieser Ansatz noch an Schwung: Nach vielen Fallstudien und Studien zur Gedächtnisgeschichte einzelner "imaginierter Gemeinschaften" hat diese zwar nach wie vor Konjunktur, in den Blick kommt aber nun vermehrt der Blick auf ostmitteleuropäische Erinnerungskulturen, der Vergleich verschiedener Erinnerungskulturen und nicht zuletzt deren bilaterale Beeinflussung, wie beispielsweise das laufende Berlin-Oldenburger Projekt der "deutsch-polnischen Erinnerungsorte" zeigt. Ein Desiderat, auch in theoretischer Hinsicht, ist jedoch die Frage nach Interdependenzen zwischen Geschichtskulturen, also ob es jenseits bilateraler Konstellationen miteinander verflochtene Gedächtnisgeschichten gibt. Es wäre zu erproben, ob sich auch eine Beziehungsgeschichte au second degré, also eine Beziehungs- bzw. Verflechtungsgeschichte der Geschichtskulturen schreiben lässt.
Dieses Desiderat greift der anzuzeigende Band auf, indem er, hinausgehend über einen Vergleich, nach Verflechtungen zwischen Grenzen von Staaten, Nationen, Regionen und Ethnien am Beispiel der Gedächtnisgeschichte Polens und seiner Nachbarn fragt, um so diese in ihren europäischen Dimensionen nachvollziehen. Auf diese Weise sollen gegenseitige Wahrnehmungen und Wechselwirkungen hinterfragt werden, ebenso wie Handlungen zwischen den Akteuren der Geschichtspolitik, die sich auf Geschichtsbilder ihrer Nachbarn beziehen.
Neben den zwei einleitenden Beiträgen von Martin Aust über die Affinität von Gedächtnis- und Verflechtungsgeschichte und von Rudolf Jaworski über die historische Gedächtnis- und Erinnerungsforschung als Herausforderung der Geschichtswissenschaften, die letztlich (und dies auch nur zum Teil) nur den aktuellen Forschungsstand widerspiegeln, ohne selbst wirklich innovativ zu sein und einen weiterführenden Beitrag zur Theoriebildung zu leisten, behandeln die zwölf weiteren, in ihrer Qualität insgesamt differenziert zu bewertenden Beiträge des Bandes in unterschiedlicher Weise die der Konzeption zugrunde liegenden Prämissen. Hierbei wird ein sehr breites Panorama an Fallbeispielen aufgefächert, von denen hier nur einige exemplarisch genannt werden können: von den Stadtgeschichtskulturen in Lemberg und Wilna als multiple Erinnerungsorte (Anna Veronika Wendland), dem Racławice-Panorama (Marek Zybura) und dem Kościuszko-Gedenken in Polen und im Ausland bis 1918 (Halina Florkowska-Frančić) über die Erinnerung an die Schlacht von Tannenberg/Żalgaris/Grunwald (Rimvydas Petrauskas, Darius Staliūnas), die Frage nach der Rezeption von Sergej Eisensteins Film "Aleksandr Nevskij" bei Alexander Fords "Krzyżacy" (Lars Jockheck, Frithjof Benjamin Schenk) und das Gedenken an den Vertrag von Perejslav' (Aust) bis zu den jüdischen Erinnerungen im Spannungsfeld von deutscher und polnischer Nationsbildungen in der Provinz Posen (Thomas Serrier) und zur Europäisierung der Vertreibungserinnerung (Stefan Troebst).
Grundsätzlich ist zu bedauern, dass die Herausgeber es unterlassen haben, durch Bildung von Sektionen Fokussierungen vorzunehmen und Vergleichsmöglichkeiten anzubieten, so dass die hier versammelten Beiträge - so anregend sie im Einzelnen sind und so innovative Perspektiven für die Gedächtnisgeschichte zumindest einige Beiträge bieten - eher kaleidoskopartig mögliche Ansatzpunkte für weitere Forschungen aufzeigen als dass der Band als Ganzes und durch weiterführende theoretische Reflexionen eng zusammengebunden erschiene. Deutlich wird in den Beiträgen jedoch insgesamt, dass die Objekte der Erinnerung nur in ihrem gesellschaftlichen Kontext wirklich verstanden werden können, dass sie also im jeweiligen kulturellen Gedächtnis verankert sein müssen. Zugleich zeigt sich aber, dass es durchaus konkurrierende Erinnerungskulturen gibt, die die Beziehungsgeschichte beeinflussen, weil sie Ansprüche und Handlungen rechtfertigen und weil die Akteure wie auch das Publikum, also die jeweilige nationale Gemeinschaft, sinn- und identitätsgebend, folglich handlungsleitend und wertebestätigend funktionieren, was wiederum Einfluss auf die Sicht des "Anderen", des "Nachbarn" hat. Die hier nur knapp skizzierten Probleme in der Konzeption des Bandes reflektieren aber wiederum den unterschiedlichen Forschungsstand in Polen und seinen Nachbarländern. Daher sollte der anzuzeigende Tagungsband, der aus den genannten Gründen insgesamt ambivalent zu beurteilen ist, dennoch als Anregung zu weiteren, die Verknüpfung von Gedächtnis- und Verflechtungsgeschichte vertiefenden und fortentwickelnden Arbeiten zu sehen sein.
Heidi Hein-Kircher