Rezension über:

John Considine: Dictionaries in Early Modern Europe. Lexicography and the Making of Heritage, Cambridge: Cambridge University Press 2008, XIV + 393 S., ISBN 978-0-521-88674-1, GBP 55,00
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Rezension von:
Christian Kuhn
Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Christian Kuhn: Rezension von: John Considine: Dictionaries in Early Modern Europe. Lexicography and the Making of Heritage, Cambridge: Cambridge University Press 2008, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/17052.html


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John Considine: Dictionaries in Early Modern Europe

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Wie jede Ordnung ist auch die Erfassung der Bedeutungen von Wörtern stets von Werturteilen geleitet. Eine 'faktische' Erhebung von Wörtern, Wortverwendungsweisen und Bedeutungen ist forschungslogisch unmöglich. Die Auswahl ist stets von Kriterien angeleitet, die zeittypisch sind. Diese Werturteile - seien sie praktischer, politischer oder religiöser Art - machen Erneuerungen von Wörterbüchern notwendig. Für Historiker sind Wörterbücher daher als Zeugnisse für Geschichtskulturen interessant, insbesondere von der Frühen Neuzeit bis zum Barock, als Sprache zum Begründungsmedium der zunehmenden Nationalisierung diente.

Damit geht die hier anzuzeigende Studie weit über ihren lexikographiegeschichtlichen Entstehungsgrund hinaus. Auf Grundlage seines fachwissenschaftlichen Hintergrunds - als Literaturwissenschaftler und "Consultant to the Oxford English Dictionary" - bietet John Considine einen interdisziplinären, europäischen Überblick über die Vergangenheitskonstruktionen, die Wörterbüchern zu Grunde lagen. Gegenwartsbezüge konnten auch Darstellungen von "classical heritage" prägen, das Gegenstand der ersten beiden Kapitel ist. Anhand des Umgangs von Erasmus, Guillaume Budé und Robert Estienne mit den Sprachen des klassischen Altertums verdeutlicht Considine die lexikologischen Arbeitstechniken in Bezug auf das Sprachmaterial, das zu dieser Zeit noch außerhalb akademischer Kontexte in Benutzung war (57). Erasmus wurde kontinuierlich als Vorbild für Antikenkenntnis hervorgehoben (69). Die vielschichtigen Aneignungsprozesse der Lexikographen verfolgt Considine detailliert, auch mit Blick auf verschiedene Ausgaben, die Druckgeschichte und die verschiedenen Paratexte (19-100).

Die folgenden drei Kapitel behandeln die lexikographische Erfassung des volkssprachigen Erbes, nämlich "Germany and the Netherlands 1500-1618" (101-155), "England to circa 1650" (156-202) und "England and Scandinavia, circa 1650-1675" (156-249). Considine hat eine sehr beziehungsreiche, europäische Parallelphänomene immer mit umfassende Darstellung offensichtlich nachträglich in eine auf dem englischen Buchmarkt zu plazierende Gliederungsweise eingezwängt, durch die der Autor sich mit einer nummerierenden Unterteilung der einander beigeordneten Kapitel behelfen muss. Die dichte Darstellung, die etwa den für die Lexikographie des Deutschen bedeutsamen Tacitismus im europäischen Kontext darstellt (109, 114), öffnet den Horizont für sinnvolle Vergleiche europäischer Vergangenheitskonzeptionen. Separat davon werden "post-classical heritages" behandelt, einschließlich ihrer Instrumentalisierung für die französische Identitätsbildung (250-287). Ein wesentliches lexikographisches Ziel ist Gegenstand des letzten Kapitels, die Suche nach der "most ancient language", also nach der größtmöglichen Nähe zum Ursprung. So grundlegende Legitimationsnarrative lexikographischer Kärrnerarbeit wie die Verwirrung der Sprachen nach dem Turmbau zu Babel und andere Ideologeme der frühen Ansätze zu Sprachwissenschaften hätten wegen ihrer hohen kulturellen Definitionskraft eine systematische Übersicht zumindest in der knappen "Conclusion" (314-320) verdient.

Für ein Publikum jenseits der historischen Sprachwissenschaften im engeren Sinne hätte die Auswahl der Beispiele prominenter und gebündelt erläutert werden sollen. [1] In der vorliegenden Form wird man mit einem Katalog an Wörterbüchern konfrontiert, dessen Anordnung hinsichtlich des Gangs der Argumentation nicht leicht zu durchschauen ist. Dieser Eindruck von der Disposition des anspruchsvollen Buchs gilt auch für die einzelnen Kapitel. Der inhaltliche Beziehungsreichtum von lexikographischen Methoden, erklärten Vorbildern und Zielen der Wörterbücher wird durchgehend durch Angaben zu Provenienz, Buchgeschichte und biographischen Informationen zu den Autoren der Wortlisten und Wörterbücher ergänzt. Zugunsten dieser Materialfülle werden kulturgeschichtliche Vertiefungsmöglichkeiten nicht immer ausgeschöpft. Weitere Forschungen sollten insbesondere die im Buch changierenden Interpretationsebenen von "heritage" - einschließlich beispielsweise der Rezeption des im 17. Jahrhundert entstandenen "Glossarium" von Du Cange durch Leser des 18. Jahrhunderts (276) - präzise und verbindlich benennen.

Davon unberührt ist die Frage, ob Considine die mit seinem Buch verfolgten lexikographiegeschichtlichen Ziele, einen nach Originalität ausgewählten Höhenkamm frühneuzeitlicher Wörterbücher zu "full circle" (320) zu bringen, erreicht hat. Historiker werden dieses dicht belegte, mit einer umfassenden Bibliographie versehene Buch mit großem Gewinn als Steinbruch heranziehen für den historischen Identitätswert von Sprache vor allem für die entstehenden Nationen.


Anmerkung:

[1] Bestimmende Motive der Wörterbuchproduktion seit dem Spätmittelalter waren nämlich, wenn auch oft an der Schnittstelle gelehrten Interesses, die Verwendbarkeit zum Erlernen einer fremden Sprache, vgl. etwa die Beiträge zu Fremdsprachen in deutschen Städten in Mark Häberlein / Christian Kuhn (Hgg.): Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende, Lehrende und Lehrwerke (= Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart; 7), Wiesbaden 2010.

Christian Kuhn