Hannes Böhringer / Arne Zerbst (Hgg.): Gestalten des 19. Jahrhunderts. Von Lou Andreas Salomé bis Leopold von Sacher-Masoch (= Schriften der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts; Bd. 2), München: Wilhelm Fink 2010, 242 S., ISBN 978-3-7705-4958-0, EUR 32,90
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Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse einer von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts von Mai 2006 bis Juli 2007 an der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig veranstalteten Vortragsreihe zum Thema "Paradigmatische Gestalten des 19. Jahrhunderts". Er ist vor allem aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum einen gehört er in den Kontext sich in letzter Zeit häufender Veröffentlichungen, die das 19. Jahrhundert gleichsam zu rehabilitieren suchen, indem sie auf dessen Modernität und Gegenwärtigkeit verweisen. Es sei keineswegs eine abgeschlossene Vorgeschichte des 20. Jahrhunderts, so betonen die Herausgeber in ihrem sehr knappen Vorwort, sondern eine Epoche, die unsere Gegenwart bis heute präge: "Nationalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Industrialisierung, Sozialismus, Historismus, Fortschritts- und Niedergangsstimmung, Genetik und Evolutionstheorie lauten nur einige der aktuell gebliebene Stichwörter". Das 19. Jahrhundert erweise sich als "Speerspitze der Moderne" und rage herausfordernd in unsere Zeit (7). Zweitens fällt der biographische Zugriff der Autoren auf. Die biographische Methode, idealiter verstanden als Rekonstruktion eines objektiv sinnhaften und vorbildlichen Lebens, gehörte ja seit dem Aufkommen der modernen Sozialgeschichte lange Zeit zu den scheinbar anachronistischen Genres der Geschichtswissenschaft. Doch auch in der modernen Kulturgeschichte wie in der soziologisch orientierten Biographieforschung, die übereinstimmend Deutungen und Sinnkonstruktionen in den Mittelpunkt biographischen Arbeitens stellen und damit die Möglichkeit einer "echten" Rekonstruktion von Erlebtem eher verneinen, gibt es nur sehr bedingt Anknüpfungspunkte an jene klassischen Methoden historistisch orientierter Biographik. Insofern wundert es auch nicht, dass die Herausgeber im Hinblick auf die Konzeption des Sammelbandes vorsichtig argumentieren: Man wolle mit den großen Erklärungen - genannt werden Joachim Radkaus "Zeitalter der Nervosität" und Jürgen Osterhammels "Verwandlung der Welt" - nicht konkurrieren und wage es nicht, das 19. Jahrhundert retrospektiv vollständig zu überschauen und zu erfassen. Der Buchtitel wird dahingehend interpretiert, dass "einzelne Positionen" emporgehoben würden, die ein Schlaglicht auf die Modernität und Gegenwärtigkeit des 19. Jahrhunderts zu werfen im Stande sind (7). Es handele sich "um eine repräsentative Mischung aus berühmten Persönlichkeiten und ungewöhnlichen Charakteren" (8). Dennoch ist an anderer Stelle von "Statthalter[n] der Epoche", von Gestalten die Rede, die die Avantgarden des 20. Jahrhunderts vorbereitet hätten, die, befreit "vom Staub der Archivgräber" im neuen Licht einer Gegenwart präsentiert würden, "die auch über die Moderne schon hinaus ist" (7). Hier offenbart sich eine durchaus postmoderne Ambivalenz des Sammelbandes, ein Changieren zwischen einem im besten Sinne traditionellen Kult großer historischer Persönlichkeiten bei gleichzeitig vorwaltender Skepsis gegenüber derartigen Entwürfen, wenn etwa die Rede ist von einem "verborgenen Winkel des labyrinthischen 19. Jahrhunderts", den es auszuleuchten gelte bzw. dass ein "angemessen flackerndes Licht" auf "das vielgestaltige Bauwerk dieses Jahrhunderts" geworfen werde (8).
Bei dem Sammelband handelt es sich um ein im besten Sinne des Wortes fächerübergreifendes Unternehmen. Die beiden Herausgeber sind Philosophen, Böhringer als Professor an der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig, Zerbst als Wissenschaftlicher Sekretär der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Im ersten Beitrag beschäftigt sich Christian Scholl (Kunstgeschichte, Göttingen) mit Caspar David Friedrich, wobei die Frage nach der Identifikation zwischen dem Künstler und seinem Werk als paradigmatischer Gedanke des Kunstverständnisses im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt steht. Elke Niewöhner (Islamwissenschaften, Wolfenbüttel) stellt die Wienerin Ida Pfeiffer vor, eine der ersten Frauen, die im 19. Jahrhundert Vergnügungsreisen in den Orient übernahm und die ihre Reisenotizen veröffentlichte. Eva-Marie Felschow (Universitätsarchiv Gießen) behandelt den Chemiker Justus Liebig, dessen wissenschaftliche Bedeutung, so ihr Urteil, nicht allein aus seinen Forschungen resultierte, sondern aus seiner ins 20. Jahrhundert vorausweisenden Fähigkeit, Wissenschaft mit Gesellschaft und Wirtschaft zu vernetzen. Cord-Friedrich Berghahn (Germanistik, Braunschweig) widmet sich dem Schöpfer des modernen Paris Georges-Eugène Haussmann, dessen Umgestaltungspläne das Stadtbild der französischen Hauptstadt bis heute unauslöschlich prägen, dessen Konzeption nahezu alle Stadtplaner des späten 19. Jahrhunderts folgten und die erst nach dem Ausgang der Klassischen Moderne im späten 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurden. Hans-Joachim Krenzke (Philosophie, Braunschweig) analysiert Søren Kierkegaards Werk im Kontext der modernen Philosophie und ordnete dieses ein in ein Dreiphasenmodell (ideell, materiell, differentiell). Rainer Wilke (Musikwissenschaft, Braunschweig) untersucht Cèsar Franck als Virtuosen, Komponist und Lehrer, wobei er vor allem darauf hinweist, dass es sich bei Franck nicht nur um einen typischen Vertreter des musikalischen Schaffens des 19. Jahrhunderts, sondern um einen Künstler von europäischem Rang handelt. Xenia Fischer-Look (Kunstgeschichte) untersucht den Zusammenhang von Zeitgeschichte und Ästhetik im Werk des Malers Édouard Manet, aus dem die von ihr so bezeichnete "Ästhetik des modernen Lebens" resultiere. Marion Kobelt-Groch (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Hamburg) nimmt Leopold von Sacher-Masoch in den Blick, wobei es ihr vor allem darum geht, dessen Wirken als Historiker, Romancier und Sozialkritiker zu würdigen. Claus-Artur Scheier (Philosophie, Braunschweig) behandelt Friedrich Nietzsche in einem insgesamt sehr knapp geratenen, thesenartig aufgebauten Artikel. Es schließt sich an ein Beitrag von Ursula Welsch (Deutsche und italienische Philologie) über Lou Andreas-Salomé, in dessen Mittelpunkt die drei Paradigmata stehen, die diese prägten: Gottverlust, Frauenemanzipation und Psyche bzw. Psychoanalyse. Den Abschluss bildet ein Aufsatz von Arne Zerbst (Philosophie, München) über Stefan George, der - auf der Basis eines Vergleichs mit Oscar Wilde - als "absoluter Dandy" vorgestellt wird. Wenn George zudem in Abgrenzung zur zeitgenössischen Avantgarde als radikaler Vertreter der Moderne im Sinne einer "Übersteigerung des Bestehenden" (234) interpretiert wird, so zeigt dies, dass Zerbst hier einen sehr weiten Modernitätsbegriff zugrunde legt, waren George doch bekanntlich modernitätsfeindliche Züge (im Sinne der modernen Industriegesellschaft) nicht fremd.
Auch wenn die eingangs vorgestellte Konzeption des Sammelbandes nicht vollständig zu überzeugen mag, weil die Kriterien für die Auswahl der vorgestellten Persönlichkeiten letztlich doch unklar bleiben und auch in den einzelnen Beiträgen nicht immer deutlich wird, warum einer Person paradigmatische Bedeutung zukommt, so kann dennoch zusammenfassend festgehalten werden, dass es sich um ein lesenswertes Buch handelt, dass manche neue Aspekte auf das 19. Jahrhundert eröffnet.
Matthias Stickler