Rezension über:

Jan Carsten Schnurr: Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815-1848 (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 57), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 464 S., ISBN 978-3-525-55014-4, EUR 76,95
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Rezension von:
Matthias Deuschle
Herrenberg
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Deuschle: Rezension von: Jan Carsten Schnurr: Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815-1848, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/19675.html


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Jan Carsten Schnurr: Weltreiche und Wahrheitszeugen

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Nicht zufällig fallen die Anfänge der deutschen Erweckungsbewegung in die Zeit nach den Befreiungskriegen. Schließlich war es die geschichtliche Erfahrung der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft, die der christlichen Rede vom geschichtsmächtigen und in die Weltläufte eingreifenden Gott zu neuer Plausibilität verhalf und zu einem religiösen Aufbruch unter der mit diesen Weltläuften konfrontierten jungen Generation beitrug. Viele Repräsentanten der Erweckungsbewegung verband daher von Anfang an ganz selbstverständlich eine spezifische Sicht der Geschichte. Die naheliegende Frage danach, wie das Geschichtsdenken der Erweckten aussah und auf welche Weise es sich artikulierte, wurde in der Forschung bisher aber höchstens beiläufig gestellt. Es ist daher sehr erfreulich, dass Jan Carsten Schnurr in seiner am Lehrstuhl von Dieter Langewiesche in Tübingen entstandenen geschichtswissenschaftlichen Dissertation die Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland zum Thema macht.

Die Arbeit ist dreigeteilt: Der erste Teil bietet eine nach Gattungen geordnete "Literatur- und Diskursgeschichte der erwecklichen Historiographie". Der Leser erhält auf 120 Seiten einen Überblick über die zahlreichen, größtenteils kaum bekannten Geschichtswerke aus der Feder erwecklicher Autoren. Dabei werden alle Werke verzeichnet, die in irgendeiner Weise Aufschluss über das geschichtliche Denken der Erweckungsbewegung geben, also auch solche Arbeiten, die sich auf bibelwissenschaftlichem Feld mit historischen Fragen beschäftigen. Das Gros der behandelten Schriften ist nicht im akademischen Kontext entstanden, nur eine Minderheit der dem erweckten Milieu zugeordneten Autoren lehrte an einer Universität - am berühmtesten davon sind sicherlich August Neander, August Tholuck oder auch Ernst Wilhelm Hengstenberg.

Während der erste Teil die zahlreichen Werke mehr auflistet denn analysiert, legt Schnurr im zweiten Teil eine Detailanalyse vor. Sie widmet sich der "Allgemeinen Weltgeschichte" des schwäbischen Pfarrers und Verlegers Christian Gottlob Barth. Dieser Teil stellt offensichtlich den Nukleus der Beschäftigung mit dem Thema dar (vgl. 11); die Auswahl lässt sich aber auch insofern rechtfertigen, als sich unter den Autoren popularwissenschaftlicher Werke auffallend viele Württemberger finden und Barth sicherlich einer der wichtigsten Repräsentanten der Erweckungsbewegung im Südwesten Deutschlands ist. Gleichwohl ist zu bedenken, dass die württembergische Erweckungsbewegung durch ihre starken pietistischen Wurzeln eine ganz eigene Prägung aufweist, was sich unter anderem an Barths Rezeption pietistischer Endzeitkonzepte zeigt (226-230).

Der dritte Teil vereinigt schließlich die Geschichtsbilder in einer um zwei Themenfelder kreisenden Synthese: Zum einen wird beleuchtet, was die als "Meistererzählung" (263) ausgemachte heilsgeschichtliche Konzeption in den verschiedenen Entwürfen charakterisiert, zum anderen werden solche Sujets vorgestellt, "die in das kollektive Gedächtnis der Erweckungsbewegung mehr als andere eingingen und an denen sie ihr Selbstverständnis in besonderer Weise festmacht" (306). Dazu zählt Schnurr Themen wie "Nationalität und Transnationalität", das Verhältnis zu Reformation, Pietismus, Katholizismus und Aufklärung sowie die Stellung zu der "Urerfahrung 1789 bis 1815".

Eine Gruppenuntersuchung wie die vorliegende steht und fällt natürlich mit der Auswahl der Quellen. Schnurr stützt sich auf gedruckte Quellen, in erster Linie Monographien, aber auch Zeitschriftenartikel, die in der Zeit zwischen 1815 und 1848 erschienen sind. Die Deutung der Revolutionsereignisse gehört daher nicht mehr zum Forschungsgegenstand. Das größte Problem ist die Frage, welcher Autor der Erweckungsbewegung zuzurechnen ist. Bekanntlich sind die Grenzen zwischen Erweckungsbewegung und der seit den 30er Jahren einsetzenden konfessionellen Bewegung fließend. Schnurr tut daher gut daran, den Radius weit zu ziehen: Neben anerkannten Protagonisten der Erweckungsbewegung wie Blumhardt, Neander, Tholuck u.a. werden auch konfessionelle Lutheraner (J.C.K. v. Hofmann, H.E.F. Guerike, W. Löhe, A.G. Rudelbach u.a.) oder ein so schwer einzuordnender Einzelgänger wie der Hallenser Historiker Heinrich Leo einbezogen. Bei der Behandlung des Dänen Grundtvig (51) fragt man sich, ob der Radius nicht zu weit gezogen ist; ebensowenig leuchtet ein, warum auch ein erklärter Gegner der Erweckten, Varnhagen von Ense, aufgenommen wurde (120f.) - nur weil er ein Sujet bearbeitet, das auch von Erweckten untersucht wurde.

Schnurr nennt verschiedene inhaltliche Punkte, welche die behandelten Autoren als Angehörige einer Bewegung ausweisen sollen (z.B. die heilsgeschichtliche Teleologie, der Reich-Gottes-Gedanke, der Vorsehungsglaube <71>), völlig überzeugend ist aber nur das Argument, dass sie sich ihrem Selbstverständnis nach zusammengehörig fühlten oder - wie Schnurr schreibt - eine "Diskursgemeinschaft" (190) bildeten. Dies lässt sich sowohl aus den persönlichen Kontakten als auch aus Äußerungen in den Werken entnehmen (vgl. z.B. 62). Fraglich ist aber, ob man die so bestimmte Diskursgemeinschaft tatsächlich als "die Erweckungsbewegung" bezeichnen kann - es handelt sich vielmehr um eine aus der Erweckungsbewegung hervorgegangene, vielfach ausdifferenzierte Diskursgemeinschaft, die sich meines Erachtens besser unter den Begriff protestantischer Konservatismus zusammenfassen ließe. Das zeigt sich zum Beispiel an der Aufnahme der Vorstellung vom "Christlichen Staat", die kein ursprünglich erweckungstheologischer Topos, sondern Charakteristikum einer in Preußen aus erwecklich-lutherischer Frömmigkeit herausgewachsenen konservativen Richtung ist. So weist Schnurr zu Recht darauf hin, dass bei diesem Thema unter den behandelten Autoren kein Konsens bestand (278-291).

Auch wenn die Bezeichnung der untersuchten Gruppe hinterfragt werden kann, so weist Schnurr doch eindrücklich die Übereinstimmung der behandelten Autoren in wichtigen Fragen nach (Teil III). Besonders interessant ist die unter I. 5. entworfene Theorie der erwecklichen Historiographie. Demnach strebten die erweckten Autoren "nach einer methodisch sauberen und entschieden christlichen Geschichtsschreibung, die die Subjektivität des erweckten Autors einbezieht und an der biblischen Wahrheit ausrichtet" (185). Inwiefern sich die Erweckten damit vom profanhistorischen Diskurs trennten und ein "eigenes historiographisches Milieu" (196) bildeten, hätte allerdings noch etwas genauer durch die Beleuchtung des zeitgenössischen Theoriediskurses herausgearbeitet werden können. Außerdem wird hier zu wenig bedacht, dass es sich bei den behandelten Arbeiten größtenteils um popularwissenschaftliche Darstellungen handelt, die grundsätzlich außerhalb des akademischen Diskurses stehen. Sehr überzeugend ist aber die Charakterisierung der erwecklichen Historiographie als "Geschichtspredigt" (170).

Die genannten Anfragen sollen nicht verdecken, dass es sich bei Schnurrs Arbeit um eine äußerst gründliche, sehr gut zu lesende Darstellung handelt, die einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des konservativen protestantischen Milieus im 19. Jahrhundert leistet und bislang kaum beachtete Quellen ans Licht bringt. Von den neu erschlossenen Räumen zeugen nicht zuletzt das reiche Quellenverzeichnis und ein "Themenverzeichnis" (460-464) am Ende des Buches.

Matthias Deuschle