Christine D. Schmidt: Sühne oder Sanktion? Die öffentlichen Kirchenbußen in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück während des 17. und 18. Jahrhunderts (= Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte; Bd. 5), Münster: Aschendorff 2009, 221 S., ISBN 978-3-402-15044-3, EUR 34,00
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Beschämung und Abschreckung stehen im deutlichen Widerspruch zu heutigen Rechts- und Gerechtigkeitsidealen - geschweige denn deren Integrationszwecke. Geschichte hat uns mehrmals gelehrt, dass Erniedrigung und Stigmatisierung die Kriminalität nicht verringern. Darüber hinaus bildet die Trennung von kirchlichen und weltlichen Institutionen einen natürlichen Ausgangspunkt im modernen Rechtsdenken. Die frühneuzeitlichen öffentlichen Kirchenbußen hatten allerdings einen anderen Charakter.
Sollten diese Maßnahmen primär aus der Perspektive ausgrenzender Entehrung oder eher als wiedereingliedernde Sühneprozesse betrachtet werden? Dies ist die Kernfrage der stark gekürzten und überarbeiteten Version der im Jahr 2008 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommenen Dissertation. Die Studie verarbeitet eine beachtliche Menge von ungedruckten, gedruckten und editierten Quellen und beinhaltet auch eine umfassende Bibliographie.
Die Kirchenzucht sei, zumal aus der strafrechtlichen Perspektive, wenig erforscht worden. Anders als es öfters noch angenommen wird, hat die Zunahme beschämender Bestrafung in weltlichen Gerichten im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts die kirchlichen Bußrituale allerdings nicht reduziert. Ganz im Gegenteil verstand die frühneuzeitliche geistliche Gerichtsbarkeit sich verstärkt "als Regulativ sozialer, nicht mehr nur religiöser Prozesse" (187).
Am Anfang des Buches wird die Komplexität der ehemaligen geistlichen und weltlichen Gerichtsbarkeit diskutiert. In den folgenden zwei Teilen analysiert die Verfasserin geistliche Niedergerichtsbarkeit in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück. Münster ist ein Beispiel für öffentliche Kirchenbuße als Disziplinierungsmittel. Im Fall von Osnabrück wird der Aspekt konfliktträchtiger Herrschaftsrechte und Jurisdiktionskompetenzen hervorgehoben. So geht es um keine eigentliche Vergleichung zwischen lokalen Rechtseinheiten, sondern eher um zwei einander ergänzende Perspektiven (25). Dies erklärt sich durch die Quellenlage.
Der Titel "Sühne oder Sanktion" verspricht das Beleuchten des eigentlichen Wesens und der Zwecke von so genannten Kirchenstrafen. Dabei spielt der Aspekt von Herrschen durch Gerichtsbarkeit eine zentrale Rolle, weil die Autorin ihren Blick sehr stark auf die Machtausübung richtet. Diese Entscheidung hätte man in dem Untertitel zum Ausdruck bringen können.
Für Schmidt geht es um Kommunikationsmittel zwischen Herrscher und Untertanen, um einen Sanktionsapparat, der als Indikator für die Herrscher-Untertan-Beziehungen funktioniert. Deshalb kann das Gericht nicht nur Rechtsnormen, sondern auch die bestehenden Wertvorstellungen berücksichtigen. Da allerdings erst die Bestrafung eine Machtdemonstrierung ermöglicht, bleibt der Herrscher von Normverstößen abhängig. (35-36)
Landesherr und Domkapitel, Pfarrer und Parochianen, Kirchengemeinde und Archdiakone, Gemeinschaft und Individuum - diese waren die Akteure, die auf der Bühne der Kirchenzucht miteinander kommunizierten. In der Analyse werden deshalb mit Recht kulturwissenschaftliche Denkmodelle benutzt, die das nach zeittypischen Regeln handelnde Subjekt in den Mittelpunkt stellen (etwa Anthony Giddens). Andere methodische Ausgangspunkte bilden die Kategorien soziales Kapital (Pierre Bourdieu) und Machtverhältnisse (Michel Foucault). Beispielsweise auf der Ebene des Fürstbistums Münster wird das Sendgericht "als Mittel zur Machtsicherung" verstanden (67).
In den Fokus der Untersuchung wird die Sendgerichtsbarkeit mit ihren unterschiedlichen, jedoch deutlich den moralisch-sittlich-religiösen Bereich akzentuierenden Kompetenzen gerückt. Die zeittypische Kriminalisierung weiblicher Sexualität vor und außerhalb der Ehe spielt damit eine wichtige Rolle auch in dieser Studie. Besonders für diese Art von Normverstößen wurden in der Nachreformationszeit sowohl öffentliche Kirchenbußen als auch weltliche Schand- und Ehrenstrafen verhängt.
Die Gedanken von Buße und strafender Gerichtsbarkeit hatten sich allerdings schon im Frühmittelalter vermischt, als die Kirche eine aktive Strafverfolgung durch die Sendgerichtsbarkeit institutionalisierte. Seit dem Hochmittelalter (etwa Papst Innozenz III.) wurden kirchliche Strafen in poenae medicinales und poenae vindicativae geteilt. Die ersten zielten primär auf Besserung und Wiedereingliederung, die letzteren aber waren disziplinierende Sühnestrafen und ähnelten damit ihren weltlichen Varianten. (38-42)
Das Sendgericht wurde theoretisch zwei Mal im Jahr in jeder Pfarrei gehalten, in der Praxis seltener. Einige Wochen vorher wurde eine Proklamation in der Pfarrkirche verlesen, die alle Haushaltsvorstände zur Teilnahme, d. h. also zum Anzeigen der Vergehen aufrief. Formal entsprach die Prozedur den Verfahrensgrundsätzen weltlicher Gerichte: die Anklage folgte der Anzeige, Geständnis oder Zeugenaussagen führten zur Bestrafung. Die Öffentlichkeit der Buße war eine logische Folge der Vorstellung von individuellen Sünden als kollektives Risiko. Im Geist des Konzils von Trient ging es um "Wiederversöhnung mit Gott" und um Vergebung von Schuld.
Im frühmodernen Kontext waren Bußleistung und Abschreckung allerdings nicht konträr. Sie gingen eher ineinander über. Bei der Kirchenzucht handelte es sich also um eine Sanktionierung, die zwar vom geistlichen Gericht ausgesprochen wurde, aber gleichzeitig auch Züge weltlicher, beschämender uns stigmatisierender Strafen in sich trug. [1] Schmidt betont somit stark die strafenden Aspekte der Kirchenzucht als Herrschaftsinstrument. Damit widersetzt sich ihre Argumentation erfolgreich der herrschenden Forschungstradition, die die Kirchenbuße hauptsächlich für wiedereingliedernde Zuchtmittel gehalten hat.
Einerseits kann die Arbeit in die traditionellere Strafrechtsgeschichte bzw. Geschichte der Gerichtsinstanzen, andererseits in die "moderne", soziologisch geprägte historische Kriminalitätsforschung eingeordnet werden. Den tatsächlich ergiebig wirkenden Ausgangspunkt von Kirchenzucht als Kommunikationsmittel, als eine Art Spiegel der Machtverhältnisse, hätte man womöglich noch mehr nutzen können. Nun geht es weniger um wechselseitige Prozesse als um obrigkeitliche Machtausübung von oben.
Christine Schmidt hat eine spannende Fallstudie über untereinander konkurrierende und sich ergänzende Machtkonstellationen geschrieben, die bedingungslos zu weiteren Untersuchungen der geistlichen Gerichtsbarkeit ermutigen soll. Für diejenigen, die sich im Dschungel der frühneuzeitlichen Rechtssysteme nicht so souverän orientieren, bietet sie darüber hinaus eine belehrende Lektüre.
Anmerkung:
[1] Auch in der weltlichen Gerichtspraxis waren die Grenzen zwischen Beschämen und Demut nicht fixiert. Siehe beispielsweise Satu Lidman: Zum Spektakel und Abscheu. Schand- und Ehrenstrafen als Mittel obrigkeitlicher Disziplinierung in München um 1600, Frankfurt/M. 2008.
Satu Lidman