Rainer Bölling: Kleine Geschichte des Abiturs, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 211 S., ISBN 978-3-506-76904-6, EUR 19,90
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Der Klappentext verspricht dem Leser / der Leserin ein "ebenso informatives wie amüsantes Buch über die Wandlungen des Zeitgeistes im Spiegel des Abiturs." Dazu passt die Aufmachung des Titelbildes: ein Foto des verschmitzt lächelnden Heinz Rühmanns in der Rolle des Pennälers Pfeiffer aus dem Film "Die Feuerzangenbowle". Informativ ja, aber amüsant? Dieser Einschätzung vermag sich die Rezensentin nur bedingt anschließen, aber wer sich an die - stellenweise doch eher trockene - Lektüre macht, dem fallen eine Reihe von bildungspolitischen Debatten auf, die damals wie heute hochaktuell waren bzw. sind. Die Überbürdungsdebatte, d.h. das Überfrachten der Schüler mit allzu viel Lernstoff, ist so alt wie das moderne Gymnasium, ebenso ständige Korrekturen der Kultusministerien an Stunden- und Lehrplänen. Auch die Klagen über die Überfüllung der Hochschulen und ihre Umwandlung von Stätten der Gelehrsamkeit in reine Berufsvorbereitungsanstalten (84) sind keineswegs auf die Zeit nach der Einführung der BA/MA Studiengänge beschränkt, und die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit von neun auf acht Jahre löste schon unter Schulmännern und Eltern im Kaiserreich heftige Diskussionen aus (119ff.).
Der Schwerpunkt der "Kleinen Geschichte des Abiturs" liegt auf dem 19. Jahrhundert. Hier sind eindeutig die Stärken des Bandes anzusiedeln. Positiv anzumerken ist, dass sich Rainer Bölling in seiner Geschichte des höheren (Knaben-)Schulwesens, insbesondere des Gymnasiums, nicht auf die preußische Schulgeschichte begrenzt, sondern Entwicklungen in anderen deutschen Staaten einbezogen hat. Die strukturelle Bildungsbenachteiligung von Mädchen, für die von Staats wegen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts kein regulärer Zugang zum Abitur vorgesehen war, wird thematisiert, ebenso in einem - allerdings äußerst knappen - Abschnitt der Aufbau des Bildungssystems in der DDR. Wichtige bildungs- und gesellschaftspolitische Debatten gerade der jüngeren Vergangenheit fehlen jedoch oder werden lediglich gestreift, so z.B. die Debatte um nicht ausgeschöpfte 'Begabungsreserven', schichtenspezifische Benachteiligung und den Ausbau des Bildungswesens in den 1960er Jahren, die Diskussion um die Einführung der Gesamtschule, die (fast) flächendeckende Einführung der Koedukation Ende der 1960er Jahre und deren Problematisierung durch die schulpädagogische Frauen- und Geschlechterforschung seit den 1980er Jahren etc.
Das besondere Interesse des Autors gilt dem zunehmenden Bedeutungsverlust des Unterrichtsfachs Latein seit dem 19. Jahrhundert (133 ff.). Für die Abfassung dieses wie des nachfolgenden Kapitels über "Deutsche Abituraufsätze als Spiegel des Zeitgeistes" (155 ff.) hat der Autor auf Abiturakten von drei nordrhein-westfälischen Gymnasien in Herford, Remscheid und Erkrath zurückgegriffen. Die Kriterien für die Auswahl der drei Schulen werden nicht explizit genannt. Es bleibt offen, ob die Auswahl auf regionale Besonderheiten, wie z.B. ein besonders gut bestücktes Schularchiv, oder persönliche Kontakte zurückgeht oder ob das unterschiedliche Profil (Humanistisches Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) den Ausschlag gegeben hat. War das humanistische Gymnasium mit seiner Konzentration auf die alten Sprachen bis zum Jahr 1900 noch der einzige höhere Schultyp, der die volle Studienberechtigung verlieh, musste es sich von da an dieses Privileg mit Realgymnasien (neusprachlich mit Latein) und Oberrealschule (naturwissenschaftlich) teilen. Die Zahl der zu unterrichtenden Wochenstunden in Latein sank seitdem nicht nur kontinuierlich, auch die Prüfungsanforderungen im Abitur wandelten sich vom "Nachweis aktiver lateinischer Sprachkompetenz" (136) bis zur heute üblichen Übersetzung lateinischer Texte ins Deutsche. Zum Abschluss des Kapitels konstatiert der Autor, von Haus aus Altphilologe, es werde deutlich, "welch fundamentale Senkung der Anforderungen innerhalb kurzer Zeit [...] im altsprachlichen Unterricht stattgefunden" habe (151). So deutlich fällt das Resümee im Kapitel über deutsche Abituraufsätze im Wandel der Zeit nicht aus. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts "beeindrucken deutsche Abituraufsätze durch eine makellose äußere Form und Beherrschung von Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung." (179) Inhaltlich könnten dagegen die Aufsätze früherer Zeiten wenig überzeugen. Sie seien angefüllt mit "wohlklingenden, aber hohlen Phrasen" und ließen "wenig eigenständiges Denken erkennen." (180) Besonders deutlich lässt sich dieses Phänomen an Aufsätzen aus dem Ersten Weltkrieg aufzeigen, in denen Abiturienten stilsicher und mit dem nötigen Pathos versehen die von ihnen erwartete nationale Gesinnung reproduzieren. Die inhaltsanalytische und textkritische Auswertung der Aufsätze wird in diesem Kapitel allerdings nur angerissen, ansonsten hätten neuere Studien, wie z.B. die Dissertation von Carolyn Grone über "Schulen der Nation? Nationale Bildung und Erziehung an höheren Schulen des Deutschen Kaiserreichs von 1871 bis 1914" einbezogen werden müssen.
Der Band hinterlässt bei der Rezensentin einen zwiespältigen Eindruck. Die zentrale Fragestellung des Autors, die der Leser / die Leserin in der Einleitung vergeblich gesucht hat, scheint die nach Kontinuität und Wandel im höheren Schulwesen zu sein, wobei die Schlussbemerkung allerdings ausschließlich auf die Frage rekurriert, ob das Abitur nun früher leichter oder schwerer war. Oftmals werden bei bildungspolitischen Fragen der Gegenwart noch fehlende bildungshistorische Untersuchungen ersetzt durch professionspolitische Standpunkte der Gymnasiallehrerschaft. Auch die Frage, an welches Publikum der Band sich eigentlich richtet, ist nicht so einfach zu beantworten. Ausgewiesenen Bildungshistorikerinnen und Bildungshistorikern bietet der Band wenig Neues. Geeignet ist er wohl am ehesten für die Leserinnen und Leser, die sich einen ersten Überblick über die Geschichte des Abiturs verschaffen möchten.
Elke Kleinau