Bettina Gräf: Medien-Fatwas@Yusuf al-Qaradawi. Die Popularisierung des islamischen Rechts, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2010, 541 S., ISBN 978-3-87997-653-9, EUR 39,00
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Vor uns liegt die überarbeitete Fassung einer Dissertation der FU Berlin aus dem Jahre 2009. Es geht um ein spannendes Thema, nämlich um die Internetaktivitäten des weithin bekannten Azhari-Gelehrten Yusuf al-Qaradawi (geb. 1926), der 1961 nach Qatar ging, um von dort aus durch eine weltweit wirksame mediale Präsenz seine islamistischen Ideen verbreiten zu können. Seine Bestrebungen gehen seit den 1970er Jahren einher mit der sahwa al-islamiyya, dem "islamischen Erwachen", wobei es ihm, wie Gräf es formuliert, darauf ankommt, dass möglichst alle Bereiche des sozialen Lebens durch ein islamisches Rechtsverständnis oder vielmehr durch eine islamische Ethik, die auf einem tradierten Rechtsverständnis beruht, bestimmt werden. Je mehr Menschen, ihm zufolge, an diesem Projekt aktiv oder passiv partizipieren, desto besser für die Umsetzung dieser Vision von einer "wirklich" islamischen Gemeinschaft. Seine zahlreichen Aktivitäten zielen daher auf Breitenwirkung ab und sind nicht auf die Elite gemünzt. In ihrer Arbeit möchte Bettina Gräf nun vor diesem Hintergrund "anhand der Darstellung der medialen Produktion und Veröffentlichung von Fatwas von ihm" den "Zusammenhang zwischen Medien-Fatwas und der Popularisierung des Wissens über islamisches Recht im 20. Jahrhundert" (11) auf der Basis der in der transnationalen Medienanthropologie entwickelten Methoden analysieren. Dabei geht sie von drei durchaus plausiblen Arbeitshypothesen aus: 1. "Meines Erachtens handelt es sich bei einer medial vermittelten Beziehung zwischen Fragenden und Mufti nicht um ein Autoritätsverhältnis, sondern überspitzt formuliert, um eine Beziehung zwischen Star und Fan" (23), 2. Fatwas entwickeln sich "im Zeitalter der neuen Medien von einem Instrument der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) zu einem Symbol islamischer Autorität (...), das medial von verschiedenen Akteuren eingesetzt wird" (26), und 3. Medien-Fatwas müssen "auch andere Funktionen übernehmen als Fatwas vor der Herausbildung der Massenmedien. Medien-Fatwas sind nicht nur soziales Instrument normativer Regulierung (Beratung von Personen in einem spezifischen Kontext) und dienen nicht vordergründig der Weiterentwicklung des Rechts (rechtlich-normativer Diskurs), sondern sie dienen vor allem der Adressierung eines marginalisierten Publikums (medialer bzw. politischer Diskurs)." (26) Letzten Endes haben wir es mit einer Popularisierung des Wissens zu tun, die, wie Gräf erklärt, durch folgende vier Punkte gekennzeichnet ist (30-31): (a) Die Abwesenheit des Autors/Muftis bei der Veröffentlichung seiner Fatwas im Internet und die Präsenz von Fatwa-Redakteuren an seiner Stelle, die seine Fatwas auswählen, redaktionell bearbeiten und veröffentlichen. (b) Medienfatwas sind in aktuelle mediale Debatten eingebettet, anstatt, wie im ifta' vor den Massenmedien, auf andere Fatwas oder Rechtstexte Bezug zu nehmen. (c) Es besteht die Möglichkeit der Wiederverwendbarkeit von Fatwas zu diversen privaten oder öffentlichen Zwecken, nicht nur durch andere Gelehrte, sondern durch die verschiedensten Akteure. (c) Al Qaradawis Medien-Fatwas haben zum großen Teil generalisierenden Charakter, statt auf spezielle Umstände spezifisch zu antworten.
Nachdem damit der konzeptionelle Rahmen der Studie abgesteckt ist, führt Gräf diese Punkte noch einmal in ihrem ersten Kapitel ("Fatwas als Forschungsgegenstand", 41-82) aus. Es folgt ein biographischer Teil ("Yusuf al-Qaradawi", 83-176), bevor es zur eigentlichen Fatawa-Analyse kommt. Diese ist zweigeteilt: Zunächst steht die Produktion von Medien-Fatwas - am Beispiel der von al-Qaradawi erlassenen Rechtsmeinungen - im Vordergrund. Gräf unterscheidet hier sinnvollerweise die für den lokalen Kontext Qatars bestimmten Texte von denjenigen mit globaler Reichweite. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen die Akteure, Formate und Kategorisierungen. Tritt bei Buchpublikationen al-Qaradawi eindeutig als alleiniger Autor auf, so ist er im Satellitenfernsehen und im Internet nur einer von vielen Akteuren. Was die Formate angeht, so trennt die Verfasserin zwischen archivierten, unmittelbar (etwa per Email oder im Fatwa-Online-Service) erstellten und journalistischen Fatwas, die nicht das typische Frage-Antwort-Muster aufweisen. Schließlich finden wir in den Online-Veröffentlichungen neben den herkömmlichen Kategorien der islamischen Rechtwissenschaft auch neue Einteilungen und somit Verschränkungen islamrechtlicher und nichtislamrechtlicher Kategorien. Den größten Teil machen Fragen nach dem Ritus, soziale Fragen und politische Themen aus, wohingegen rein rechtliche Fragen - nach Scheidung, Verträgen, Fürsorge etc. - in den Hintergrund treten.
In dem zweiten Teil ihrer Untersuchungen zu al-Qaradawis Rechtsgutachten unternimmt Gräf eine Textanalyse ausgewählter Online-Fatwas auf al-Qaradawis Website Qaradawi.net. Es handelt sich um 30 Texte aus der Zeit von 2000 bis 2002, also um den 11. September 2011 herum, die am 17. Juni 2003 auf dieser Seite in der Rubrik "Fatawa wa-ahkam" abgerufen werden konnten. Die Verfasserin befasst sich in diesem Teil vor allem mit den formalen Kriterien, dem Verhältnis von Form und Inhalt und mit der Einordnung exemplarischer Fatwas in größere inhaltliche, intermediale und intertextuelle Zusammenhänge. Sie kommt zu dem Ergebnis: "Durch die Möglichkeit der unkomplizierten digitalen Reproduktion von Fatwas verlieren diese ihren Charakter eines Textes, der relevant ist für einen aktuellen Sachverhalt, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, für eine Person. Sie wandeln sich zu Aussagen, die Universalität beanspruchen, was wiederum für die Propagierung politischer Ideen genutzt wird." (378) Al-Qaradawi selbst gehe es um die "mediale Thematisierung islamischer Rechtsmoral und Ethik als alternativer Ordnung." (380) Sein Ziel sei die Förderung der "Solidarität unter Muslimen weltweit sowie die Herstellung eines Bewusstseins für eine islamische Gemeinschaft, die global gedacht wird." (382) Dabei sei die von ihm entworfene islamische Gemeinschaft "nicht durchlässig für Nichtmuslime (auch wenn sie die gleichen Werte und politischen Überzeugungen teilten)." (382)
Insgesamt gesehen hat Bettina Gräf ein interessantes Buch zu al-Qaradwis Internetaktivitäten am Beispiel seiner Fatawa vorgelegt, auch wenn man am Ende der Lektüre irgendwie das Gefühl hat, nicht wirklich ganz viel Neues gelernt zu haben.
Stephan Conermann