David Engels / Lioba Geis / Michael Kleu (Hgg.): Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike zum Spätmittelalter, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, 363 S., ISBN 978-3-515-09641-6, EUR 54,00
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Kaum eine andere Insel des Mittelmeerraumes ist in unserem Gedächtnis in ähnlicher Weise präsent wie Sizilien. Als Stichworte seien nur "Damon, den Dolch im Gewande", die punischen Kriege sowie Ciceros apologetisches Lob der "ersten Provinz" gegenüber dem finsteren Verres genannt - Bestandteile des humanistischen Bildungskanons. Darüber hinaus faszinierten seit jeher die Wellen mehr oder minder gewaltsamer Migrationen, die die Insel erreichten. Die Vielschichtigkeit des verknüpften kulturellen Erbes scheint sich geradezu in Figuren wie Friedrich II. und dem Gattopardo zu manifestieren.
Der von David Engels, Lioba Geis und Michael Kleu herausgegebene Sammelband "Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike bis zum Spätmittelalter" beleuchtet aus verschiedenen Perspektiven die sizilischen Herrschaftskonzepte: jene, "die von außen nach Sizilien importiert wurden", und jene, "die sich auf der Insel selbst entwickelten und von innen heraus bestehende politische Strukturen veränderten" (8), sowie die spannungsreiche Wechselwirkung dieser "Ideale" mit der "Realität". Er fasst die Beiträge eines Projektes zusammen, das 2008/2009 von Lehrstühlen der alten und mittleren Geschichte der RWTH Aachen und der Université Libre de Bruxelles getragen wurde.
Der Einleitung folgen zunächst Beiträge zur griechischen Antike. Michael Kleu zeigt in seinem Beitrag "Von der Intervention zur Herrschaft" (13-36) den hohen Wert Siziliens für die karthagische Herrschaft auf. Stefan Schorn macht durch den Aufsatz "Politische Theorie, 'Fürstenspiegel' und Propaganda" (37-61) deutlich, dass die Quellen, auf denen unser Wissen über das antike Sizilien beruht, in hohem Maße stilisiert wurden. Alexander Schüller fragt hingegen: "Warum musste Dion sterben?" (63-89). Die Antwort Schüllers lautet, dass ein Hauptgrund die überhandnehmenden finanziellen Verpflichtungen Dions gegenüber seinen Söldnern waren. Efrem Zambon zeigt in seinem Beitrag "Authenticity and idealism in Sicilian politics from Timoleon to Pyrrhus" (91-119) den Widerstreit demokratischer und frühhellenistischer Herrschaftsideale, der mit dem Scheitern monarchischer Ordnungsentwürfe endete.
Luca Guido leitet zur römischen Zeit über. Unter dem Titel "Encore à propos des débuts de l'administration romaine en Sicilie" (121-136) macht er deutlich, wie wenig programmatisch als vielmehr pragmatisch in der frühesten Zeit der Reichsverwaltung vorgegangen wurde. Die landläufige Sicht der römischen Verwaltung basiert demgegenüber auf den idealisierenden Schriften Ciceros. Diese Schriften werden von Thomas Bonnas in seinem Beitrag "Cicero und Verres" (137-157) behandelt: Das neue, durch Cicero propagierte Herrschaftsideal eines Statthalters trug mit dazu bei, Verres zu Fall zu bringen und somit auch indirekt die Realität zu verändern. Julia Hoffmann-Salz verdeutlicht in ihrem Aufsatz "Augustus und die Städte Siziliens" (159-174) einmal mehr, in welch hohem Maße die Herrschaft des Augustus stilisiert und sozusagen eine Art eigene Realität generiert wurde.
Dem Frühmittelalter widmet sich hingegen Carola Nicolaye mit ihrem Artikel "Sicily as pawn in Vandal foreign policy" (175-188). Sie zeigt, dass Sizilien für die Vandalen keineswegs nur "Beute" war, sondern auch als Stützpunkt des Vandalischen seaborn empire dienen sollte. Peter Van Nuffelen schärft mit seinem Beitrag "Episcopal Succession in Sicily during the sixth century A.D." (189-199) den Blick für kaiserliche Herrschaft, die zwar regionale Eigenheiten mit einkalkulieren muss, jedoch auch auf zentrale Steuerungsversuche nicht verzichten darf. Vivien Prigent beleuchtet mit "La Sicile byzantine, entre papes et empereurs (6ème - 8ème siècle)" (201-230) nicht nur die erhebliche informelle Machtstellung des Papstes auf der Insel, sondern zeigt auch, wie unser Bild von Sizilien durch Forschungsmeinungen vergangener Zeiten präfiguriert wird: hier die negative Sicht des Risorgimento auf die byzantinische Herrschaft. In gewissem Sinn schließt hieran der Beitrag von Erik Lipperts "Papst Gregor II. und Kaiser Leon III." (231-245) an. Lipperts legt nahe, dass es sich bei dem angenommenen Gegensatz zwischen Papst und Kaiser eher um die Fragen der Besteuerung Siziliens als um einen theologischen Gegensatz handelte.
Der Beitrag von David Engels "L' insurrection d' ibn Qurhub" (247-264) thematisiert die Stellung des arabischen Sizilien zwischen Fatimiden und Abbasiden. Julia Becker untersucht "Graf Roger I. von Kalabrien und Sizilien" (265-281) und die Herrschaftsausübung des Normannen. Gerade der Rückgriff auf den Personenkreis der Kapläne spiegelt die normannische pragmatische Flexibilität wider, wie Lioba Geis in ihrem Artikel "Die Hofkapelle als Herrschaftsinstrument Rogers II. für Sizilien?" (283-305) zeigt. Georg Vogelers Beitrag "Die Urkunden Kaiser Friedrichs II. für Empfänger auf der Insel Sizilien" (307-324) zeigt deutlich die Peripherielage Siziliens innerhalb der kaiserlichen Herrschaft. Christian Friedl verweist in seinem Artikel "Herrschaftskonzeption bei König Manfred" (325-335) auf überindividuell wirksame Ordnungsvorstellungen und Herrschaftsstrukturen, die den Einzelnen auf bestimmte Bahnen zwingen. Philipp M. Schneider schildert mit seinem Beitrag "Die Sizilianische Vesper und die communitas Siciliae von 1282" (337-350) die letztlich gescheiterten Bemühungen, auf Sizilien das monarchische Ordnungsmodell durch städtebündische Elemente zu ergänzen.
Die Zusammenfassung von David Engels, Lioba Geis, Michael Kleu "Herrschaft auf Sizilien zwischen Ideal und Wirklichkeit" (351-360) fasst die Beiträge in ihrer Disparität gekonnt systematisierend zusammen. Diese Disparität könnte man dem Band nämlich vorhalten - die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen werden nicht von jedem Autor im gleichen Maße berücksichtigt. Demgegenüber wird gerade in der Zusammenfassung deutlich, dass nur eine vielseitige Betrachtung Siziliens in der "langen Dauer" Antworten auf offene Fragen finden kann:
- War es die allzu große Exponiertheit Siziliens, die verhinderte, dass die Insel eigene Herrschaftskonzepte entwickelte und erprobte? Oder war die abgrenzende Qualität der Insellage so stark, dass auf eine tief greifende, kontinuierliche Selbstdefinierung der Sizilier als differenter Gemeinschaft verzichtet wurde und somit der Weg für immer wieder erfolgende politische wie kulturelle Überformungen offen stand? Für Sizilien scheint charakteristisch, dass "nahezu jede Herrschaft [...] in Symbiose zu den Vorgängermodellen herausgebildet und somit zumindest faktisch in eine gewisse Kontinuität gesetzt" (354) wurde - ein Befund, den man auch unter dem Schlagwort der Hybridisierung fassen kann [1].
- War die Geschichte Siziliens eher durch die "generellen Entwicklungslinien und -tendenzen des antiken und mittelalterlichen mediterranen Raums bedingt oder wesentlich von Erfolg und Misserfolg herausragender Einzelpersönlichkeiten geprägt" (352)? Wichtig ist es zur Beantwortung dieser Frage in der Tat - wie von den Herausgebern angemahnt (358) - den Blick auch auf die Quellen zu lenken, die Aussagen zu den "herrschaftsfernen Ebenen" zulassen, womit sich auch die Frage nach Ideal und Wirklichkeit ganz anders stellt, als wenn nur die herrschaftsnahen Quellen berücksichtigt werden.
Der vorliegende Band verdeutlicht eindrucksvoll das Potential entsprechender Fragestellungen.
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa Stefan Burkhardt / Margit Mersch / Ulrike Ritzerfeld / Stefan Schröder: Hybridisierung von Zeichen und Formen durch mediterrane Eliten, in: Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, hgg. von Julia Dücker / Marcel Müllerburg / Michael Borgolte / Bernd Schneidmüller, Berlin 2011, 467-557.
Stefan Burkhardt