Martin Dresler (Hg.): Neuroästhetik. Kunst - Gehirn - Wissenschaft, Leipzig: E. A. Seemann Verlag 2009, 128 + XVI S., ISBN 978-3-86502-216-5, EUR 24,90
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Neuroökonomie, Neuroethik, Neurorecht. Was heißt eigentlich "Neuro"? Dieser Wortteil, den man in letzter Zeit häufiger hört, bezieht sich auf das Gebiet der Neurowissenschaften und bedeutet, dass ein bestimmtes Wissenschaftsgebiet mithilfe der Hirnforschung untersucht wird. Dieser aktuelle "Trend" ist aufgrund neuer Technologien möglich und schafft tiefergehende und weiterreichende Forschungsergebnisse. Denn mit jedem Fortschreiten der Technik werden neue Möglichkeiten für Versuche und damit Studien geschaffen, die sowohl bisherige Ergebnisse fundieren als auch neue Erkenntnisse liefern können.
Und jetzt gibt es auch noch Neuroästhetik, Hirnforschung für die Sinne also! Kann man etwa mithilfe bildgebender Verfahren erklären, warum wir etwas als schön empfinden und warum uns ein Kunstwerk fasziniert oder abstößt? Wie diese Emotionen beim Betrachten eines Kunstwerks entstehen? Kann uns die Neuroästhetik Auskunft darüber geben, wie Kreativität funktioniert oder die alte Frage nach dem Nutzen von Schönheit aufzuklären helfen? Nun, das sind einige der Fragen, die von den verschiedenen Autoren behandelt werden. Soviel sei gesagt: Endgültige Antworten gibt es (noch?) nicht, aber die präsentierten Forschungsergebnisse zeigen, wie weit man auf dem Weg zur Klärung solcher Fragen bereits fortgeschritten ist: Da sei zum einen der Dreiklang des Wahren, Schönen und Guten genannt. Die neurowissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, wie und wodurch unser (ästhetisches) Handeln und Empfinden durch unsere Werte beeinflusst wird. Denn Wahrnehmung geschieht immer mit emotionaler Beteiligung. Wir können kein Urteil - auch kein ästhetisches - ohne den Rückgriff auf unsere Gefühle fällen. Wahrgenommenes wird von uns automatisch bewertet. Die Forschungsergebnisse hierzu können beispielsweise bedeutsam in Bezug auf die Reaktion von kunsterfahrenen und -unerfahrenen Betrachtern auf Kunstwerke sein. Ebenfalls aufschlussreich sind die Untersuchungen von empirisch beobachtbaren Kompositionsregeln und ihre Auswirkung auf die Blicksteuerung des Betrachters. Somit ergibt - in diesem Zusammenhang - jede Studie einen weiteren Mosaikstein zum Verständnis der Rezeption von Kunst.
Leider reflektiert der Titel des Buches nur in unzureichender Weise seinen Inhalt. Suggeriert er doch, dass es zentral um das Thema der Neuroästhetik geht. Tatsächlich behandeln jedoch knapp 60% der Aufsätze Zusammenhänge zwischen Kunst und anderen Wissensgebieten. Sie sind deshalb nicht weniger lesenswert, aber ein bisschen Effekthascherei dürfte bei der Wahl des Titels angesichts der Entwicklung des sehr aktuellen Themas dabei gewesen sein.
Weitere Sichtweisen auf die Kunst werden von Seiten der Philosophie, Nanowissenschaft, Mikroskopie, Mathematik und Physik aufgeführt. Denn das, was Künstler bewegt und die Themen, die sie sich suchen, sind Themen der Zeit, die teilweise unter Zuhilfenahme der jeweils neu entstehenden Technologien bearbeitet werden. War dies zu Beginn des Medienzeitalters noch der Fernseher und Videorekorder, so können dies heute Elektronenmikroskope und die jeweils aktuellste Computertechnologie sein. Bereits van Gogh malte mit seiner berühmten Sternennacht die zu seiner Zeit entdeckten astronomischen Phänomene. Dieses und weitere namhafte Beispiele aus der Kunst- und Literaturgeschichte werden mit den jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Verbindung gebracht und dürften den Leser zum Nachdenken anregen.
Bei den digitalen Be- und Verarbeitungsmöglichkeiten, die sich bieten, muss natürlich die Frage gestellt werden, ob und inwieweit das Ergebnis Kunst ist oder nicht. Reicht es, wie bei der Fraktalkunst, dass der Mensch Verarbeitungstiefen angibt, Farbschemata auswählt und den Rest "den Computer machen lässt"? Auf jeden Fall kann und darf der Wissenschaftler vom Reiz des bildlichen Ergebnisses seiner Arbeit und der unerwarteten Schönheit, die sich ihm bietet, fasziniert sein. Ein weiteres Beispiel zeigt, wie der Blick durch ein Mikroskop von der wissenschaftlichen zur künstlerischen Arbeit mit dem untersuchten Objekt führte.
Ein Faux-Pas ist Martin Dresler, dem Herausgeber, bei der Betrachtung des Essays "The science of art. A neurological theory of aesthetic experience" von Ramachandran und Hirstein unterlaufen. [1] Er bemängelt ihre Theorien als "zu ambitioniert". Außerdem seien ihre "Argumente teilweise fehlerhaft" (30). Dabei übersieht er, dass Ramachandran im Interview "Sharpening up The Science of Art" mit Freeman zugab, dass der betrachtete Essay nicht so ernst gemeint sei und hauptsächlich dazu dienen sollte, einen Dialog zwischen Künstlern, Neurowissenschaftlern, Wahrnehmungspsychologen und Kunsthistorikern zu schaffen. [2]
Wieweit dieser Dialog fortgeschritten ist, zeigt ein Blick auf die Autorenschaft des Buches. Nur drei der 16 Autoren haben einen kunstwissenschaftlichen Hintergrund bzw. sind im Kunstbereich tätig. Dieses Missverhältnis ist ein sichtbares Zeichen dafür, dass seitens der Kunstwissenschaften Nachholbedarf für den Aufbau eines nicht nur von Ramachandran gewünschten Dialogs besteht. Denn nur in diesem können auch Kunstwissenschaftler zu erfolgreichen Forschungsdesigns beitragen. Schließlich geht es um Mitwirkung bei der Beantwortung von Fragen zu Ästhetik, Schönheit und Kreativität - allesamt Themen, die zum thematischen Fundament von Kunstwissenschaftlern gehören und an deren Ausarbeitung und Weiterentwicklung sie sich beteiligt sehen dürfen.
Insgesamt ist dieses Buch ein reichhaltiger Beitrag zum Verständnis von Kunst und Künstlern. Der neurowissenschaftliche Teil, der sozusagen einen immanenten Erklärungsansatz bietet, wird durch mehrere von außen gerichtete Blickweisen in schöner Weise ergänzt: Diese verschiedenen Perspektiven, die auf die Kunst und ihre Aspekte geworfen werden, lassen sich wohl am treffendsten mit den Worten von Ernst Peter Fischer zusammenfassen: "Wir können alle dasselbe wissen, müssen aber nicht versuchen, dies mit denselben Symbolen zu erreichen" (73).
Anmerkungen:
[1] Vilayanur S. Ramachandran / William Hirstein: The science of art. A neurological theory of aesthetic experience, in: Journal of Consciousness Studies 6 (1999), Nr. 6-7, 15-51.
[2] Vilayanur. S. Ramachandran / Anthony Freeman (Interview): Sharpening Up 'The Science of Art', in: Journal of Consciousness Studies 8 (2001), Nr. 1, 9-30.
Sabine Scherz