Volker Reinhardt: Die Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute, München: C.H.Beck 2011, 512 S., 58 Abb., 11 Kt., ISBN 978-3-406-62206-9, EUR 34,95
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Schweizer Geschichte hat Hochkonjunktur. Unbeeindruckt von der kritischen Diskussion unter Schweizer Fachhistorikerinnen und -historikern über die Frage, ob und wie sich Nationalgeschichte in Zeiten der Globalisierung und transnationalen Verflechtung noch schreiben lasse, haben Verlage in den letzten Jahren in eben diesen Fachkreisen Autorinnen und Autoren für schweizergeschichtliche Gesamtdarstellungen gefunden.
Volker Reinhardt - Fribourger Ordinarius für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit - ist ein Wiederholungstäter in diesem Genre. Der Verlag C.H. Beck hat den Verfasser des schmalen Bändchens zur Geschichte der Schweiz (Reihe "Wissen", 2006) für eine ausführlichere, aktualisierte Gesamtdarstellung gewonnen, die im Unterschied zur Kurzdarstellung von 2006 hinter die "Gründungszeit" des 13./frühen 14. Jahrhunderts zurückgeht und unter der verkürzenden Überschrift "Die Schweiz vor der Schweiz" (16-29) auch die Ur- und Frühgeschichte, die römische Zeit sowie das Frühmittelalter des nachmals schweizerischen Raums präsentiert. Verlag und Autor haben eine deutschsprachige Leserschaft im Auge - möglicherweise jene hoch qualifizierten deutschen Aus- bzw. Einwanderer, die sich seit einiger Zeit jährlich in grosser Zahl in der Schweiz niederlassen und denen die ungewohnten Verhältnisse beim unbekannten Nachbarn doch manches Rätsel aufgeben. Ein Blick in die Geschichte des kleinen und doch so verwirrend vielfältigen Landes mag dabei über das eine oder andere Urlaubscliché und durch die Medien vermittelte Stereotyp aufklären.
Reinhardts Darstellung bleibt stark auf die Geschichte der Politik und des Staatensystems konzentriert. Ausführungen zur Wirtschaft, zur Bevölkerung, Gesellschaft und Kultur, zu Wissen(schaft) und Ideen sind hier und da eingestreut, erhalten aber kein Eigengewicht. Der Autor arbeitet die strukturellen, langfristig wirksamen Merkmale und Faktoren der Nationalgeschichte heraus und bringt seine Kenntnisse der allgemeinen Geschichte der Frühen Neuzeit ein, um das Geschehen in der Eidgenossenschaft in die Dynamik der europäischen Mächtepolitik einzuordnen. Hier erinnert der Verfasser zu Recht daran, wie sehr sich gerade die Schweizer Geschichte nur aus ihrer Verflechtung mit dem europäischen Umfeld verständlich machen lässt. Die insgesamt sehr verdichtete Darstellung wird immer wieder durch längere biographische Einschübe aufgelockert, die der Leserschaft exemplarisch "große Schweizer" vorstellen.
Auf eine bemerkenswerte Art bleibt die Darstellung der so genannten Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft schwankend und unentschieden. Einerseits sanktioniert der Verfasser die gerade erst von Roger Sablonier 2008 in die Debatte eingebrachte These, die das Geschehen in den so genannten Waldstätten um 1300 aus den Verwicklungen der damaligen Reichspolitik und nicht mehr aus der Optik der um den Landfrieden besorgten Innerschweizer Länder interpretiert. Anderseits hält er gleichwohl für die Überschrift des einschlägigen Großkapitels (31) und der Karte (72) am traditionellen "Gründungsjahr" 1291 fest. Bemerkenswert ist dies insofern, als Reinhardt damit ein Nebeneinander zweier "Gründungserzählungen" einführt, dessen historiographiegeschichtliche Tragweite für den gewöhnlichen Leser kaum erkennbar wird, zumal das Buch ohne kommentierende Anmerkungen auskommen muss.
Das Buch ist eingängig und flott geschrieben. Die schematische Zeichnung des kolossalen Matterhorns, die jeweils die Großkapitel einleitet, ist wohl den Wünschen der Marketing-Abteilung des Verlags geschuldet und soll dem Buch schweizerische Solidität und Qualität attestieren, welche leider in der farblichen und grafischen Wiedergabe der zahlreichen Abbildungen, Karten und Grafiken vermisst wird. Eine sorgfältigere Bild- und Textredaktion hätte bemerken müssen, dass Charles Gleyres pompöses Historiengemälde von 1858 (16) nicht etwa - wie die Bildlegende besagt - an die Unterjochung der helvetischen Ureinwohner durch die Römer, sondern im Gegenteil an den Sieg der Tiguriner über ein römisches Heer in der Schlacht von Agen (107 v. Chr.) erinnern wollte. Für eine allfällige Neuauflage sollten weitere Inkonsistenzen und Flüchtigkeitsfehler bereinigt werden: Bei der Schilderung der Kriegszüge aus den Waldstätten im Anschluss an die Burgunderkriege 1477 zeigt sich der Verfasser unsicher, ob er diese im Gefolge der überholten Interpretation als "Saubannerzug" zorniger junger Leute (117) oder mit den einschlägigen Forschungen von Ernst Walder zutreffend als "Kolbenbannerzug" und als Ausdruck einer auch von den politischen Eliten sanktionierten Reislauf- und Gewaltkultur in der Innerschweiz (128) bezeichnen soll. Stans liegt nicht an den Ufern des Vierwaldstättersees (137). Dass sich aus der Niederlage der Orte bei Marignano 1515 "eine waffenstarrende Neutralität" entwickelt habe, perpetuiert überholte Vorstellungen und vereinfacht den komplexen Charakter der eidgenössischen Außenbeziehungen über Gebühr (160). In den Tessiner Vogteien legten die Landvögte ihre Rechnung nicht vor einem "Syndikator", sondern vor dem Kollegium des "Syndikats" ab (162). Nicht der Lukmanierpass, sondern das Veltlin verband die österreichischen Erblande mit den habsburgischen Besitzungen in Oberitalien (214). La Neuveville liegt am Bielersee und nicht am Neuenburger See (258). Die Wirz waren ein bedeutendes Landleutegeschlecht in Obwalden und nicht in Schwyz (266). Die Legende zur Grafik zum Staatsaufbau der Helvetischen Republik übersieht, dass dieser Staatsaufbau nicht bis 1803, sondern nur bis zum ersten Staatsstreich von 1800 Bestand hatte (313). 1798 wurden in der Schweiz noch keine einheitlichen Münzen und Maße eingeführt (344). Die Charakterisierung der radikalen Demokraten der 1820er Jahre als "Jakobiner" ist nicht erhellend (355). Die Zahnradbahn auf die Schynige Platte startet in Wilderswil und nicht in "Riggenbach"; Niklaus Riggenbach (1817-1899) hieß aber der Pionier des Schweizer Zahnradbaus (387). Überraschend erhält Friedrich Nietzsche ein Kurzporträt (397f.). Die Zustimmung der Kantone zum Beitritt der Schweiz zum Völkerbund 1920 erfolgte nicht mit 11½ zu 10½ Stimmen im "Ständerat"; dieses Verhältnis bezieht sich vielmehr auf die Zahl der zustimmenden bzw. ablehnenden Kantone (so genanntes "Ständemehr") (425). Die Bundespräsidentin des Jahres 2010 hieß "Doris" und nicht "Ruth" Leuthard (486).
Enttäuschend bleibt die Bibliographie, die dem neugierigen Leser zur weiteren Lektüre empfohlen wird. Andere Gesamtdarstellungen wie jene von Thomas Maissen (2010), François Walter (2009/2010) oder die bis 2001 in sieben Auflagen erschienene Kurzdarstellung von Ulrich Im Hof fehlen ebenso wie wichtige Standardwerke. Unter den jüngeren Kantonsgeschichten sind jene zu Zürich und Obwalden verzeichnet, nicht aber jene zu Basel-Land, Graubünden, zur italienischen Schweiz, zu Bern und St. Gallen. Dass der Autor Spezialstudien seiner Schülerinnen und Schüler aufführt, die man in einer Kurzbibliographie zur Schweizer Geschichte nicht unbedingt erwarten würde, mag als Akt wohlwollender Patronage durchgehen. Unverständlich ist aber, dass jeglicher Hinweis auf das neue, mittlerweile 10 Bände umfassende Historische Lexikon der Schweiz fehlt und damit das online geschaltete, zentrale Referenzwerk der aktuellen Schweizer Historiographie (http://www.hls.ch) unerwähnt bleibt.
André Holenstein