Miriam Rose: Schleiermachers Staatslehre (= Beiträge zur historischen Theologie; 164), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, X + 316 S., ISBN 978-3-16-150899-8, EUR 89,00
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Schleiermachers Staats- und Politiktheorie ist in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten geradezu entdeckt worden. Den Ausgangspunkt bildete die Edition diverser Materialien und Vorlesungsnachschriften durch Walter Jaeschke innerhalb der "Kritischen Gesamtausgabe" (1998). Dieser voluminöse Band hat erstmals erkennbar werden lassen, welchen Stellenwert die Fragen der Staatsgestaltung und Politik auch auf theoretischer Ebene für Schleiermacher gehabt haben. Bedenkt man, wie früh er begonnen hat, in das philosophisch-sozialethische Themenfeld auszugreifen, lag der Weg zur späteren intensiven Beschäftigung damit in der akademischen Lehre allerdings nahe. Von dem ihm als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften zustehenden Recht, innerhalb der Philosophischen Fakultät Vorlesungen durchzuführen, machte er ausgiebig Gebrauch. So trug er, neben etlichen weiteren Vorlesungen zu anderen Themen, zwischen 1813 und 1833 fünfmal über "Politik" bzw. "Die Lehre vom Staat" vor.
Jaeschkes Edition hat allenthalben Überraschung ausgelöst. In diesen material- und gedankenreichen Erörterungen erwies sich der so häufig als Romantiker und Gefühlstheologe marginalisierte Gelehrte als realistischer Spätaufklärer. Jetzt kam auch erst richtig zu Bewusstsein, dass Schleiermacher sich in den Jahren der Demagogenverfolgung mit seinen Positionen auf eine Weise exponiert hatte, die ihm wiederholt großen Ärger bereitete, zeitweise zum Verbot der Politikvorlesung führte und in einer besonders kritischen Stunde sogar seine Universitätsstellung bedrohte.
In den letzten Jahren sind nun gleich mehrere Studien vorgelegt worden, die die Stellung der Schleiermacherschen politischen Konzeption im Zusammenhang ihrer Zeit rekonstruieren. Einen Schwerpunkt bildete dabei die Frage der Rückbindung an aufklärerische Linien, vor allem in Bezug auf die Einschätzung der Französischen Revolution; zum anderen ging es um eine kritische Einschätzung des innovativen Potentials, wie es sich etwa in der Gegenüberstellung zur politischen Theorie Hegels darstellt.
Anders als der große Opponent mit seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts" hat Schleiermacher sich mit der Publikation von Zeugnissen seines politischen Denkens sehr zurückgehalten. Das gesamte politiktheoretische Themenfeld spielte über die Vorlesungen hinaus kaum eine Rolle. So ist dieser Aspekt wirkungsgeschichtlich wenig bedeutsam geworden, und die Darbietung von nachschriftlichem Material aus dem politiktheoretischen Themenfeld innerhalb der "Sämmtlichen Werke" (Die Lehre vom Staat, 1845) hat kaum Gewicht entfaltet.
Mit Miriam Roses Münchener Habilitationsschrift liegt nun ein weiterer bedeutsamer Forschungsbeitrag vor. Der Titel Schleiermachers Staatslehre enthält schon eine Programmankündigung. Ausdrücklich weist Rose nämlich die Auffassung zurück, Schleiermacher habe überhaupt eine politische Theorie entfalten wollen. Sein Anliegen sei es zunächst einfach gewesen, die preußischen Reformbestrebungen durch eine entsprechende akademische Argumentation zu unterstützen. Die Art und Weise, wie er das Gesamtgebiet abschreitet, lässt allerdings die Intentionen, die ihn mehr und mehr über diese ursprüngliche Absicht hinausgetragen haben, deutlich erkennen. Und auch die Interpretin bekennt sich mit den Stichworten "Freiheit und Menschenrechte" (V) klar zu der Sichtweise, dass Schleiermacher über den konkreten historischen Kontext hinaus eine um den Freiheitsbegriff zentrierte moderne Staatsauffassung propagiert.
Eine knappe Einleitung situiert Schleiermachers "Beschäftigung mit der Staatslehre" im theorie- und zeitgeschichtlichen Kontext. Es folgt dann mit einem Überblick über die deutschsprachige Rezeption der Französischen Revolution der erste große Hauptteil. Ein Überblick über die diversen Vorlesungen anhand der überlieferten Nachschriften schließt sich an. Das Zentralkapitel erörtert sodann die "thematische Fokussierung" der Staatslehre mit den Schwerpunkten "Staatslehre als abstrakte Geschichte des Staates", "Wesen des Staates", "Freiheit des Einzelnen", "Staat und Kirche", "Krieg und Frieden" und der Rechtstheorie, in der Schleiermacher einen "sittenexplikativen Rechtsbegriff aus dem Geist der Nüchternheit" entwickele (212). Hochinteressant sind auch die sich hieran anschließenden Ausführungen zur "theologischen Theorie politischen Handelns", wie Schleiermacher sie in seinen Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre entfaltet.
Doch wie schätzt Rose Schleiermachers Staatslehre nun selbst ein? In den zuletzt vorgelegten Interpretationen unterscheidet sie zwei Linien: Die eine möchte in ihm den Vertreter einer "liberalen" Auffassung vom Staat sehen, orientiert am Gedanken der Teilhabe. Faktisch gehe Schleiermacher von der Idee der modernen bürgerschaftlichen Zivilgesellschaft aus, hinzu komme eine signifikante Nähe zum Konzept der Verhandlungsdemokratie. Belege für die "demokratische" Ausrichtung sind nach Ansicht dieser Interpreten - zu denen auch der Rezensent gehört (Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, 2004) - Schleiermachers Abwehr der Zensur, seine Forderung nach einer strikten Trennung von Kirche und Staat oder die Öffnung der Politiktheorie auf einen internationalen Horizont hin. Demgegenüber vertritt eine "Gegenlesung" das wesentlich ungünstigere Urteil, Schleiermacher könne nicht als politischer Theoretiker angesprochen werden und schon gar nicht als liberaler. Vielmehr habe er "wirklichkeitsentfernt" eine gegebene Sittlichkeit von Regierung und Staatsbürgern vorausgesetzt. Vor allem das unterstellte Kontinuum von Ethik und Politik habe eine rechtsförmige Ausgestaltung seiner Überlegungen verhindert und zu einer unzulässigen Aufladung aller politischen und staatstheoretischen Begriffsbildungen geführt.
Miriam Rose entwickelt in ihrer Untersuchung nun ein Modell, das diese beiden konträren Sichtweisen nicht einfach um eine dritte ergänzt, sondern sie gleichsam in eine neue Einschätzung aufhebt, die zwar Teilmomente beider Seiten integriert, die jeweiligen Interpretationsansätze als solche aber überwindet. Als liberaler Politiktheoretiker kann Schleiermacher nach Rose schon deshalb nicht gelten, wie er gar keine "Theorie" von Staat und Politik habe entwerfen wollen, vielmehr "negiere" er sogar "den Selbstanspruch einer politischen Theorie" (289).
Das hat allerdings wenig Beweiskraft, müsste man sich doch nun darüber verständigen, was als Theorie gelten kann. Dass Schleiermacher seine Expositionen zum Staatsbegriff mit einem systematischen Anspruch versehen hat, und das ist für ihn das entscheidende Signum jeder theoretischen Reflexionsleistung, kann nicht bezweifelt werden. Einleuchtender ist vielleicht Roses Bedenken, jene Einordnung Schleiermachers in die Geschichte des demokratischen Gedankens löse einzelne Aspekte aus einem insgesamt ganz anders orientierten argumentativen Zusammenhang heraus. Sie werde überdies den zeitgeschichtlichen Bedingtheiten nicht gerecht, denen Schleiermacher nicht entkommen sei. Besonders die bei ihm geradezu penetrante "Vermischung ethischer und politischer Perspektiven" (288) werde hier in unzulässiger Weise ausgeblendet.
Wie dem auch sei, mit ihrer sorgfältigen Rekonstruktion der Schleiermacherschen Staatslehre hat Miriam Rose einen bedeutsamen Beitrag geleistet. Ohnehin sind ihre kritischen Bemerkungen nur eine Art Nachwort, die dann allerdings in die doch sehr wichtigen "abschließenden Thesen" münden, mit denen der Ort markiert wird, den Schleiermachers eigentümlich uneindeutige Position einnimmt. Die wichtigsten Stichworte sind "Theorieflexibilität", "dynamische Staatstheorie", "abstrakte Geschichte des Staates", Verhältnis von "Staatlichem" zu "Nichtstaatlichem". Die Staatstheorie erscheint als "Differenztheorie", als "Normaltheorie" (statt "Konflikttheorie") und als "Politikberatung". Mit seinem Insistieren auf dem Partizipationsmotiv konzipiert Schleiermacher einen modernen Staatsbegriff, andererseits fällt er selbst dahinter zurück, wenn er doch immer wieder den Staat mit der "Obrigkeit" gleichsetzt. Dies bringt Rose schließlich zu dem Urteil, dass Schleiermacher, aller anderswo vorgetragenen Individualitätstheorie ungeachtet, im staatstheoretischen Kontext "kein Theoretiker der Freiheit des Einzelnen" genannt werden und deshalb auch nicht als "liberaler Denker" gelten könne.
Matthias Wolfes