Marianne Schröter: Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 44), Berlin: De Gruyter 2012, XII + 413 S., ISBN 978-3-11-026259-9, EUR 119,95
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Das Lebenswerk von Johann Salomo Semler, geboren 1725 und von 1752 bis zu seinem Tode 1791 Theologieprofessor in Halle, ist treffend mit der Werkstatt eines unerschöpflich einfallsreichen, aber konzentrationsschwachen Handwerkers verglichen worden. [1] Zu allen Themenfeldern der Theologie hat er Anregungen gegeben, deren Tragweite bisweilen erst in der Generation der Urenkel ermessen wurde. Gottfried Hornig (1927-2010) hat Semler eine lange Reihe profund gelehrter Studien gewidmet [2], die allesamt ein leiser, aber durchdringender apologetischer Unterton durchzieht: Semler habe nicht die Absicht gehabt, protestantischer Theologie ihre Vergewisserungsinstanzen in Urchristentum und Reformation zu entziehen, er habe lediglich deren genaueres Verständnis anbahnen wollen. In Verbindung hiermit steht eine gewisse Neigung zur Isolierung Semlers gegen andere Richtungen gleichzeitiger deutscher protestantischer Aufklärungstheologie, die letzthin die These provozierte, Semlers vermeintliche Sonderstellung resultiere lediglich aus perspektivischen Verzerrungen durch mangelnde Quellenkenntnis. [3]
Die exzellente Dissertation von Marianne Schröter markiert demgegenüber den Beginn eines neuen Diskussionsganges: Sie arbeitet heraus, dass Semlers theologische Arbeit kritisch wie konstruktiv weniger an bestimmten materialdogmatischen Propositionen orientiert ist als an der Frage nach deren Geltungsgründen: Ein Topos christlicher Lehrbildung ist erst dann entschlüsselt, wenn die religiös-ethischen Leitintuitionen verstanden sind, welche ihn an seinem distinkten real-, religions- und geistesgeschichtlichen Ort hervorgebracht haben.
Semler, so die Grundthese, stellte den Theologiekonzepten der Orthodoxie und des Pietismus nicht etwa bloß ein durch bestimmte Reduktionen positionell anders akzentuiertes gegenüber, sondern er entwickelte ein neuartiges, spezifisch hermeneutisches Verständnis von Theologie.
Semlers Hermeneutik im engeren Sinne ist denn auch der erste Untersuchungsgang gewidmet. Die Verfasserin greift weit aus. Nach einem werkgeschichtlichen Überblick über Semlers einschlägige Arbeiten schildert sie, welche einschneidenden Veränderungen der hallische Pietismus (A. H. Francke und seine Schüler) und die hallische Frühaufklärung (Chr. Wolff, S. J. Baumgarten) schon an den einschlägigen Maximen der lutherischen Orthodoxie mit ihrer Orientierung an der Verbalinspiration der Bibel vorgenommen hatten, und dann entfaltet sie den Gehalt von Semlers Voten: Semler hat ein Verständnis von Texten, auch biblischen, "heiligen" Texten, entworfen und praktiziert, welches diese als Zeugnisse von absichtsvollen Akten der Kommunikation zwischen konkreten Menschen in bestimmten historischen Situationen liest. Alles methodisch verantwortete Verstehen ist durch diese Einsicht ermöglicht, welche in sich ein Akt der bewussten Fremdsetzung ist. Und jedes Textverständnis, in welchem diese Verfremdung durch den Rekurs auf anderweitige Konstruktionen des vorlaufenden Einverständnisses überspielt wird, ist verfehlt: Dieser Widerspruch richtet sich nicht allein gegen die orthodoxe Hermeneutik und die sie fundierende Lehre von der Verbalinspiration, sondern ebenso gegen das pietistische Postulat der Erbaulichkeit des Schriftinhalts oder die rationalistische Konzentration auf bestimmte scheinbar unmittelbar anschlussfähige Begriffe.
Die weiteren Hauptteile der Untersuchung sind ganz analog gearbeitet. Am bekanntesten sind Semlers Impulse für die Exegese: Der biblische Kanon wird von ihm als ganzer wie in allen Bestandteilen durchgreifend historisiert. Seine Prädikation als "Wort Gottes" wird abgelehnt: In den biblischen Zeugnissen werden religiöse Erfahrungen und Einsichten von Menschen in bestimmten geschichtlichen Situationen formuliert, und diese Formulierungen sind ebenso wenig einfach übertragbar wie die einmalig-unwiederholbaren Ursprungssituationen selbst.
Der Kirchengeschichte, insbesondere der der vorkonstantinischen Zeit und der Reformation, spricht Semler die didaktisch-erbauliche Funktion als magistra vitae ab. Die ersten drei Jahrhunderte, die als Zeit der Märtyrer in je unterschiedlichen konfessionellen Projektionsgestalten der jeweiligen Gegenwart als kritische Spiegel vorgehalten wurden, entkleidet er mit explizit gegen Gottfried Arnold gewandtem Überbietungsanspruch ihrer besonderen Aura. In der solchermaßen kritisch verstehend wahrgenommenen Kirchengeschichte wird der selbst denkende Christ der historischen Genese und damit auch der Relativität seiner eigenen Denkweisen inne und lernt, sie realistisch einzuschätzen.
Analoges gilt für die Dogmatik. Die Lehrentscheidungen der antiken Reichskirche mögen an ihrem geschichtlichen Ort sinnvoll und plausibel gewesen sein; Verbindlichkeit für die Gegenwart können sie nicht beanspruchen: Auch die "Ketzer" waren gute Christen! Kirchlich-konfessionelle Lehrvorgaben sind ebenso wie individuelle theologische Systementwürfe positiv zu bewerten, weil und sofern sie eigenverantwortliche Denkarbeit anregen; religiös schädlich sind sie, wenn an deren Stelle ihre bloße Übernahme auf Autorität hin oder aus bloßer Gewohnheit tritt.
Das didaktische Leitkonzept in und hinter Semlers Lebensarbeit bestand also nicht in einem dogmatisch-positionellen Gesamtentwurf, sondern es war ihm darum zu tun, ein neues Ethos theologischer Arbeit in Geltung zu setzen. Theologie ist Theorie, intellektuelles Handwerk im Dienste bestimmter Bildungsaufgaben, und im Horizont dieser Bildungsaufgaben sind wiederum die Inhalte Mittel zum Zweck: "Die lehrmäßige Vermittlung zielt also lediglich auf die Anregung der Selbsttätigkeit des Rezipienten" (362); "Nur die eigene Erfahrung verbürgt die Bedeutung und Wahrheit des erkannten und löst das Moment der tätigen Annahme des jeweiligen Gehalts aus" (340).
Semlers hermeneutisches Theologieverständnis wurzelt in einem höchst anspruchsvollen Religionsbegriff: Religion, ganz und gar unvertretbar individuell, heißt, sich in seiner kontingent-individuellen Existenz als von Gott in Forderung und Verheißung angesprochen zu verstehen und sein Leben entsprechend gestalten. Besonders deutlich werden diese Zusammenhänge in den Publikationen, die aus Semlers "asketischen" Vorlesungen hervorgegangen sind, also aus Lehrveranstaltungen, die in Halle seit der pietistischen Frühzeit eingebürgert waren und in denen biblische Texte zwar auf wissenschaftlicher Grundlage, aber mit dem Primärziel der frömmigkeitspraktischen "Applikation" ausgelegt wurden.
Mit Recht hält die Verfasserin hier fest, dass Semler damit Urgestein reformatorischen Christentumsverständnisses zur Geltung bringt. Und sie sieht zugleich, wie deutlich Semlers Erwägungen auf den theologischen Historismus vorausverweisen. Gerade bei diesem Vorblick tritt jedoch auch im Kontrast hervor, dass Semlers Relativierungen geschichtlicher Geltungsanmutungen ein ganz starkes Widerlager in dogmatisch-metaphysischen Prämissen haben. Sodann hat er es m.E. nie geschafft, das Verhältnis seiner normativen Konzeption christlichen Lebens und Denkens zum geschichtlich gegebenen Christentum mit den dessen Kontinuität sichernden Institutionen wirklich zu klären. An diesen Stellen dürften Schwerpunkte kommender Forschungsdebatten liegen, welche diese außergewöhnlich gute Arbeit sicher erheblich befördern wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie Bd. IV, Gütersloh 1952, 87.
[2] Abschließend Gottfried Hornig: Art. Semler, Johann Salomo, in: TRE Bd. 31, Berlin / New York 2000, 142-148.
[3] Vgl. Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006, 268.
Martin Ohst