Hiroko Ikegami: The Great Migrator. Robert Rauschenberg and the Global Rise of American Art, Cambridge, Mass.: MIT Press 2010, XIII + 277 S., ISBN 978-0-262-01425-0, GBP 22,95
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Der Titel könnte kaum besser gewählt sein: Mit "The Great Migrator" war ein 1958 in Sports Illustrated publizierter Artikel überschrieben, welcher das Flugverhalten der auf dem nordamerikanischen Kontinent beheimateten Kanadagans beschrieb. Robert Rauschenberg übernahm die den Bericht begleitende Farbfotografie von einer majestätisch ihre Schwingen ausbreitenden Gans für die Transfer-Zeichnung "Course" (1958) und machte also etwas, das Craig Owens Jahre später als "allegorical imagery" bezeichnete: Durch die Aneignung des Bildes entstand ein neues Bild. [1] Dass "The Great Migrator" Rauschenberg aber nicht nur als Bildmotiv, sondern auch als Metapher seiner eigenen Existenzweise als stetig reisender und vielerorts arbeitender amerikanischer Künstler gefallen haben dürfte, steht außer Frage.
Die japanische Kunsthistorikerin Hiroko Ikegami untersucht in ihrer vorzüglich recherchierten und von MIT Press sehr ansprechend verlegten Studie den internationalen Aufstieg der amerikanischen Kunst in den 1960er-Jahren via bzw. gespiegelt in Rauschenbergs Kunst und seinen multimedial ansetzenden Aktivitäten. Als dramaturgischer Leitfaden dient Rauschenbergs 1961 einsetzende Arbeit als Bühnenbildner und Beleuchtungsregisseur für die Merce Cunningham Dance Company und deren 1964 absolvierte Welttournee mit Stationen unter anderem in Paris, Venedig, Stockholm und Tokio. Jeder dieser vier Städte widmet Ikegami ein eigenes Kapitel, in dem sie den lokalen Umgang mit der amerikanischen Kunst und mit Rauschenberg insbesondere analysiert und dabei eindrücklich herausarbeitet, welch große Bedeutung jeweils die leibhaftige Anwesenheit des Künstlers vor Ort besaß - für die Auseinandersetzung sowohl mit seinem Werk als auch mit amerikanischer Kultur im Allgemeinen.
Mit ihrem Buch positioniert sich Ikegami auf der Seite derjenigen, die eine Revision der Revision betreiben. Der These von einem programmatisch exekutierten amerikanischen Kulturimperialismus im Mittel der Hochkunst [2] hält sie ein deutlich komplexeres Diskursmodell entgegen, das "den globalen Aufstieg der amerikanischen Kunst" begreift als "a reciprocal, cross-cultural and conflicted process" (11). Der postrevisionistische Ansatz Ikegamis fokussiert zum einen die vielfältigen Interaktionen zwischen Künstlern, Kuratoren, Galeristen und Kritikern an den einzelnen Standorten und innerhalb globaler werdender Netzwerke in den 1960er-Jahren. Zum anderen geht es ihr um eine differenzierte Perspektive auf die Kunstwerke, auf Rauschenbergs gerade in ihrem Amerika-Bezug mitunter höchst ambigue Werke und auf interpretatorische Spielräume in der transkulturellen Kommunikation über einzelne Arbeiten. Entsprechend schildert sie in jedem ihrer Kapitel nicht nur die komplexen Aushandlungsprozesse unter den Akteuren und Institutionen vor Ort (und zum Teil auch in den USA), sondern analysiert auch Schlüsselwerke der Rauschenberg-Rezeption in Paris, Venedig, Stockholm und Tokio.
Als Rauschenberg im Juni 1964 mit der Merce Cunningham Company in Paris eintraf, galt er dort bereits als "zweiter Jackson Pollock". Der Abstrakte Expressionismus hatte spätestens Ende der 1950er-Jahre, auch infolge einiger großer Wanderausstellungen, Akzeptanz in Westeuropa gefunden und sich dort als anschlussfähig an zeitgenössische Strömungen (i.e. Informel) erwiesen. Rauschenberg profitierte davon und war relativ früh mit seinen Arbeiten in Avantgarde-Galerien in Mailand, Düsseldorf und Paris präsent. Zum Durchbruch verhalf ihm eine Einzelausstellung in der Galerie Daniel Cordier 1961. Wie Ikegami aufzeigt, waren Rauschenbergs Arbeiten für das Pariser Publikum interessanter als die zeitgleich vor Ort präsentierten Werke seines Landsmanns Jasper Johns. Rauschenbergs "Combine Paintings" schienen produktionsästhetische und konzeptuelle Merkmale der europäischen Moderne wiederaufzugreifen und kamen zugleich sehr amerikanisch daher. Dass die Pop Art und vor allem Rauschenberg in Europa so schnell so erfolgreich waren, ist aber - wie Ikegami nachweist - auch das Verdienst der Galeristin und Sammlerin Ileana Sonnabend. Mit ihrer 1962 in Paris eröffneten Galerie schuf sie eine den Markt beherrschende Drehscheibe für amerikanische Avantgarde-Kunst, die sie in enger geschäftlicher Kooperation mit dem in New York tätigen Galeristen Leo Castelli gezielt ausstellte und vertrieb. Berühmt wurde ihre in der Pariser Kunstzeitschrift L'Oeil im Sommer 1964 geschaltete Werbeanzeige, die eine stimmungsvolle Vedute Venedigs zeigt - überschrieben mit dem Namen "Rauschenberg".
Dass der Künstler in just diesem Jahr den begehrten Biennale-Preis erhielt, empörte die Pariser Kunstöffentlichkeit und gilt noch heute als ein Meilenstein der Erfolgsgeschichte amerikanischer Kunst in Europa. Ikegami rekonstruiert die komplizierten Umstände, die zu dem Preisgewinn führten, schildert die kontroversen Debatten und wechselnden Sachzwänge. Besonders interessant ist hier die Tatsache, dass Rauschenbergs Auftritt mit der Merce Cunningham Company in Venedigs Opernhaus La Fenice den Preisgewinn offenbar erheblich beförderte. Auch die ambivalente Rolle Alan Solomons, der 1964 für den amerikanischen Biennale-Pavillon verantwortlich zeichnete, wird von Ikegami aufgeschlüsselt. Der Ausstellungsmacher wollte den Preis für Rauschenberg, hatte auf die Entscheidung aber keinen direkten Einfluss. Allerdings versuchte er in seinen schriftlichen Äußerungen, die politische Dimension von Rauschenbergs "Combine" und Serigrafie-Arbeiten herunter zu spielen und sie so mit modernistischen Konzepten kompatibel zu machen. In einer konzentrierten Werkanalyse kontrastiert Ikegami diese Lesart mit späteren von Leo Steinberg, Max Kozloff und Craig Owens, die antiformalistisch argumentierten und stärker auf Rauschenbergs allegorische Verfahrensweisen und daraus resultierende Ambiguitäten abhoben.
Eine besonders interessante Station sowohl der Dance Company als auch und vor allem der amerikanischen Kunst in Europa war Stockholm. Wie Ikegami aufzeigt, sah Pontus Hultén, der Gründungsdirektor des Moderna Museet, im Ankauf und der Zurschaustellung amerikanischer Avantgarde-Kunst eine Möglichkeit, sein in Europa peripher platziertes Museum zu einem international ausstrahlenden Leuchtturm zu machen. Diese Strategie ging zunächst auf, und noch heute gilt das Direktorium Hulténs als die große Zeit des Moderna Museet. 1965 konnte das Stockholmer Museum Rauschenbergs "Monogram" erwerben, die zweifellos bekannteste Arbeit des Künstlers, um die sich auch das Amsterdamer Stedelijk Museum bemüht hatte. Ikegami analysiert diese Arbeit sehr produktiv in der Zusammenschau mit den Performances "Shot Put" und "Elgin Tie", die Rauschenberg im September 1964 im Moderna Museet zur Aufführung brachte. Infolge des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Vietnam-Krieg und wachsender antiamerikanischer Stimmung in Schweden wurde die Museumspolitik Hulténs problematisch, und er reagierte mit einem breiter aufgestellten Ausstellungsprogramm. Aber erst Hulténs Wechsel nach Paris 1973 bedeutete das Ende einer fünfzehnjährigen Ära, in der das junge ambitionierte Moderna Museet konsequent auf zeitgenössische amerikanische Kunst gesetzt hatte - zum eigenen Vorteil und zu dem der protegierten Künstler.
Das abschließende Kapitel von Ikegamis Buch ist Rauschenbergs Begegnung mit Japan und der Auseinandersetzung japanischer Künstler mit 'westlicher' Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet. Es ist ein besonders faszinierendes und anregendes Kapitel, das zeigt, wie ambivalent und prekär der Transfer von Bildern und Motiven ist, wenn zwei so unterschiedliche, durch die jüngsten Kriegsereignisse aber eng und schmerzhaft miteinander verbundene Kulturen wie die japanische und die amerikanische auf Ebene der Künste und der Künstler in einen Dialog eintreten. Rauschenbergs Arbeit "Gold Standard", 1964 als Ergebnis einer Performance im Tokioter Sōgetsu Art Center entstanden, dokumentiert die Unsicherheit des amerikanischen Künstlers im kreativen Umgang mit japanischem Zivilisationsgut und eine gründliche Skepsis gegenüber den Möglichkeiten interkulturellen Dialogs. Die jungen japanischen Avantgarde-Künstler wiederum hatten in den 1960er-Jahren mit ganz banalen Hindernissen, wie mangelndem Anschauungsmaterial und hohen Reisekosten, zu kämpfen, wenn sie am internationalen Kunstgeschehen teilhaben wollten. Ushio Shinohara verfiel darauf, auf der Grundlage von Schwarz-Weiß-Produktionen Arbeiten von Rauschenberg und anderen 'westlichen' Künstlern zu imitieren. Ikegami analysiert diese japanische "Imitation Art" sehr einfühlsam als eine subtile Strategie der Destabilisierung künstlerischer Autorität, die zumindest Rauschenberg irritiert zu haben scheint (189).
In Tokio, wo die Dance Company mehrere Wochen gastierte, endete die immer spannungsreicher gewordene Zusammenarbeit Rauschenbergs mit Merce Cunningham und John Cage. Und mit Rauschenbergs Rückkehr in die Vereinigten Staaten, wo der Künstler zunächst nur zögerlich Wertschätzung erfuhr, endet auch Ikegamis Buch. Es zeigt die Komplexität interkultureller Verständigung und transnationaler Kunstgeschichte(n) und ist insofern auch ein wichtiger Beitrag zu aktuellen Debatten über "World Art History".
Anmerkungen:
[1] Vgl. Craig Owens: The Allegorical Impulse: Towards a Theory of Postmodernism, in: October (Frühjahr 1980), Nr. 12, 76-87 und (Sommer 1980), Nr. 13, 59-80.
[2] Vgl. Max Kozloff: American Painting during the Cold War, in: Artforum 11 (Mai 1973), Nr. 9, 43-54; Eva Cockroft: Abstract Expressionism. Weapon of the Cold War, in: Artforum 12 (Juni 1974), Nr. 10, 38-41; Serge Guilbaut: How New York Stole the Idea of Modern Art: Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, Chicago 1983; Frances Stonor Saunders: The Cultural Cold War: The CIA and the World of Arts and Letters, New York 2000.
Sigrid Ruby