Ralf Schäfer: Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus. Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich (= Dokumente - Texte - Materialien; Bd. 74), Berlin: Metropol 2011, 512 S., ISBN 978-3-940938-67-1, EUR 29,90
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Das Lebenswerk Carl Diems ist heftig umstritten im deutschen Sport und in der Sportgeschichtsschreibung. Eine vierbändige Biographie, verbunden mit einer "Empfehlung für den Umgang mit der Erinnerung an seine Person" [1], und die Tagung, die jüngst über Diem durchgeführt wurde [2], haben den Streit nicht schlichten können. In ihm bezieht Ralf Schäfer unmissverständlich Position: "Als Anhänger der völkisch geprägten Neuen Rechten wirkte dieser 'Vater des deutschen Sports' auf seinem Gebiet schon im Wilhelminismus als bürgerlicher Wegbereiter des Nationalsozialismus." (15) "Diems Beteiligung am NS-Regime" sei "eine Konsequenz" seiner völkischen Haltung, die "bis in die prägende Phase zu Beginn seiner Karriere im Wilhelminismus" zurückreiche (23).
Mit einer solchen Kontinuitätskonstruktion, die sich durch das Buch zieht, bürdet Schäfer seinem Untersuchungszeitraum eine Beweislast auf, die dieser nicht tragen kann. Dennoch wird man diese Dissertation ein grundlegendes Werk zur Formationsphase des Sports in Deutschland nennen dürfen. In ihr vollzog sich der Aufstieg Diems, und er gehörte zu ihren wichtigsten Gestaltern. Auch wer ein ganz anderes Diem-Bild hegt, als es hier mit dem Willen zur Eindeutigkeit präsentiert wird, sollte das Buch gründlich lesen. Geboten wird auf einer außerordentlich breiten Quellengrundlage eine Gesellschaftsgeschichte des Sports im späten Kaiserreich entlang des Weges Carl Diems in die Sportorganisation und Sportjournalistik. Man muss den forcierten Wertungen des Autors nicht folgen, um diese Leistung zu würdigen. Und wer sich für den Milieustreit um Diem nicht interessiert, findet dennoch viele erhellende Einsichten in Gesellschaft und Politik des Kaiserreichs. Sie sind zu wichtig, um dieses Buch den Experten für die Geschichte des Sports und ihrem Streit um die angemessen Einschätzung der zentralen Gründergestalt dieser Geschichte zu überlassen.
Das erste Kapitel zeigt einen jungen Mann mit unbändigem Aufstiegswillen, der sich zunächst darin bewährt, den Abstieg aus der wohlsituierten Bürgerlichkeit, in die Diem hineingeboren wurde und nun aufgrund des Vaters zu zerbrechen drohte, zu verhindern. Ganz gelingt das nicht. Das Gymnasium wird mit der "Mittleren Reife" abgebrochen, um Geld zu verdienen. Auch der Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bringt nicht die erhoffte gesellschaftliche Aufwertung, denn er hatte sich eine Einheit ausgesucht, die zu vornehm war, um ihn als Offiziersanwärter zu akzeptieren. Der ersehnte Aufstieg gelingt im Sport, einem expandierenden Gesellschaftsbereich, der seine Formen erst noch entwickeln muss. Weil das institutionelle Gehäuse schwach ausgebildet ist, sind die sozialen Hürden für diejenigen, die nicht die üblichen Zeichen bürgerlicher Respektabilität mitbringen, niedriger als dort, wo schon alles fest etabliert ist. Diems Aufstieg ist geradezu 'amerikanisch', und Nordamerika wird sein Vorbild für einen leistungsstarken modernen Sport. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Diem im deutschen und internationalen Sport eine Fülle höchster Ämter erreicht, unter denen die Position des Generalsekretärs zur Vorbereitung der 1916 in Berlin geplanten Olympiade hervorragt. Mit dem Gehalt, das er erhält, und seinen Einnahmen als Journalist lebt er nun bürgerlich komfortabel. Diese berufliche Erfolgsgeschichte, die Schäfer detailliert darlegt, muss hier nicht weiter verfolgt werden, obwohl es höchst aufschlussreich für die Analyse von Aufstiegsprozessen ist, wie die Bedeutung von Netzwerken gezeigt wird, die Diem meisterhaft knüpft. Gefragt werden soll, was das Buch darüber hinaus für die Geschichte des Kaiserreichs bietet und wie die drei Begriffe des Obertitels zu verstehen sind. Es sind Reizworte im Streit um Diem.
Schäfer wendet sich entschieden gegen alle, die die damaligen Auseinandersetzungen zwischen Turnen und Sport als einen Kampf zwischen Tradition und Moderne, Nationalismus und Internationalismus, Politisierung und "Eigenwelt" deuten. Er zeigt an Berlin, dem Hauptort des Wirkens von Carl Diem, wie durchlässig die Grenzen zwischen Turnen und Sport waren. Die Schärfe der Auseinandersetzungen dürfte nicht zuletzt darin begründet gewesen sein, dass beide um dieselbe Personengruppe warben, die städtische Jugend, sofern sie nicht sozialdemokratisch optierte. Es ging immer auch um Einfluss, Macht und Geld unter rivalisierenden Organisationen, die ihre Unterschiede dramatisierten, um die Grenzen klar zu ziehen. Das führt Schäfer quellengesättigt vor Augen. Sein Buch bietet über den Karriereweg Diems hinaus eine Geschichte Berliner Sport- und auch Turnvereine. Die Professionalisierung des Sportbetriebs von der Organisation der Vereine über die Entstehung von Verbandshierarchien bis zum Reglement bei Wettkämpfen und dem Bau von Sportplätzen wird eingehend untersucht. Ebenso die frühe Kommerzialisierung und die Bedeutung der Sportpresse für die enorme Expansion des Sports in den Vorkriegsjahrzehnten. Auch die sozialen Trennlinien in den Sportvereinen arbeitet Schäfer heraus.
Sport war eine gesellschaftliche Innovation, doch sie verlief in Deutschland als "Jugendpflege" in enger Kooperation mit dem Staat, insbesondere mit dem Militär. Dem ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das zeigt, wie die Organisatoren des Sports die Hilfe des Staates suchten und erhielten. Möglich war das nur, weil man den Sport als staatstragend darstellte. Diem bediente sich dieser Klaviatur virtuos. Er forderte eine gesetzliche Sportpflicht für Jugendliche und auch für Studenten, verbunden mit der Pflicht der Kommunen, Sportstätten zu bauen. Eine Vereinnahmung des Sports durch staatliche Institutionen lehnte er jedoch ab. Der Sport und seine Organisationen sollten staatliche Hilfen unterschiedlicher Art erhalten, jedoch ihre Eigenständigkeit bewahren. Als Gegenleistung bot Diem, die Jugend wehrtüchtig zu machen: "In friedlicher Zeit lernt man das Kämpfen nur im friedlichen Kampf. Das ist der Sport" (389). In diesem Sinn rechtfertigte er auch die Olympiade als friedlichen Wettkampf der Nationen gegen die Kritiker, die deutsche Spiele verlangten.
Rechtfertigen die reichen Quellenbefunde, die Schäfer präsentiert und in scharfem Zugriff analysiert, die drei Reizworte im Obertitel? Militarismus - ja, wenn man darunter eine gesellschaftliche Haltung versteht, die die Nation auf militärische Stärke ausrichten will, weil der Krieg als unvermeidbar gilt. Nationalismus - dieser Begriff steht im Titel stellvertretend für die völkische Neue Rechte. Hier sind die Befunde weniger eindeutig als es Schäfer wahrhaben will. Zur völkischen Rechten gehörte Opposition gegen eine staatliche Politik, die international zu zurückhaltend sei. Eine solche Kritik findet sich bei Diem nur 1913 aus Anlass der Jahrhundertfeiern. Doch die scharfe Kritik, die Diem hier äußert, begrenzt er auf den privaten Raum (260). Dies gilt auch für den dritten Begriff: Antisemitismus. Diem war ein Antisemit. Daran wird man nicht mehr zweifeln können, wenn man dieses Buch gelesen hat. Es war ein Antisemitismus im privaten Austausch unter Gleichgesinnten. Hier spricht Diem von der "Judenpresse mit ihrem zersetzenden Gesäusel" (260), von jüdischen Ärzten als "Semitenbande", der er das "Stadion doch nicht ausliefern" will (307), und er diffamiert mit Stereotypen, wenn er aus seinem Wintersportort über dieses "krumme Volk" schreibt, das sich dort breit mache: "Alle Juden des Jahrhunderts waren vereint. Man sah nur X- oder O-Beine" [259]. Öffentlich äußerte sich Diem im Untersuchungszeitraum so nie. Schäfer begnügt sich nicht mit diesen Befunden. Ihm geht es darum, in ihnen Diems Haltung während des Nationalismus zu erkennen. Hier greift er zu sprachlich suggestiven Formulierungen, die den Eindruck von Eindeutigkeit erzeugen. Damit setzt er sich über ein Methodenprinzip hinweg, das er in der Einleitung zu Recht von der Biografie verlangt: sie als eine "Kette von Entscheidungen" zu erzählen, die "prinzipiell ergebnisoffen sind" (27). Daran hält er sich nicht, um Diems Lebensweg geradlinig zu machen: völkisch, antisemitisch, also nationalsozialistisch. Dennoch - ein wichtiges Buch zur Geschichte des Sports und des Kaiserreichs.
Anmerkungen:
[1] Frank Becker: Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882-1962). 4 Bde., 2009-2011; Bd. 1: Das Kaiserreich, 2009, 313-323 (Empfehlung).
[2] Dokumentiert im Heft 3 von ZfG 59, 2011.
Dieter Langewiesche