Flora Graefe: Arbeitskraft, Patient, Objekt. Zwangsarbeiter in der Gießener Universitätsmedizin zwischen 1939 und 1945 (= Kultur der Medizin. Geschichte - Theorie - Ethik; Bd. 32), Frankfurt/M.: Campus 2011, 198 S., ISBN 978-3-593-39394-0, EUR 24,90
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Sowohl die Erforschung der Zwangsarbeit im 'Dritten Reich' als auch die der Medizingeschichte des Nationalsozialismus unterliegen schon seit längerem einem Prozess der Spezialisierung und Ausdifferenzierung. Dementsprechend wurde für die Medizin im Nationalsozialismus jüngst das Bild eines immer undeutlicher werdenden "Flickenteppich[s]" verwendet. [1] Flora Graefe hat mit ihrer Dissertationsschrift über Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter an der Universitätsklinik Gießen beide Themen zusammengebracht. Einer solchen Untersuchung kommt die verhältnismäßig früh begonnene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit an der Gießener Medizinischen Fakultät und Universität entgegen. [2] Zudem wurde das Thema Zwangsarbeit in Medizin und Gesundheitswesen in den letzten Jahren verstärkt diskutiert. Dabei sind jedoch nur wenige Studien zur Universitätsmedizin vorgelegt worden, von denen insbesondere Dieter Specks Fallstudie über die Universitätsklinik Freiburg als Vorlage diente, anhand derer Flora Graefe ihre Dissertation konzipiert und gegliedert hat. [3] Dementsprechend wird das Thema am Beispiel Gießens durch einen Ansatz beleuchtet, der auf verschiedenen Ebenen nach der Objektivierung von Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus fragt: Es geht namentlich um die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, ihre Behandlung als Patienten und den Missbrauch, den sie in der medizinischen Forschung erfahren haben.
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis hinterlässt einen überraschenden ersten Eindruck: Die Kapitel mit eigenen Forschungsergebnissen machen nur etwa die Hälfte des Buches aus. Der Rest entfällt auf die Darstellung des Forschungsstands, der Quellen und Methoden sowie auf die Diskussion. Dieses scheinbare Missverhältnis erklärt sich erst im Lauf der Lektüre. Denn die Autorin ist darum bemüht, das Problem einer schmalen Quellenbasis durch eine ausführliche Beschreibung ihrer Herangehensweise, Arbeitsschritte und Materialen auszugleichen und auf diesem Wege ihre Untersuchungsergebnisse zu rechtfertigen. An einigen Stellen erscheint dieses Vorgehen durchaus als redundant: Beispielsweise wenn die Autorin darauf hinweist, dass die ausgewerteten Dokumente "ursprünglich nicht zu Forschungszwecken" (48) angefertigt wurden, oder auf 12 Seiten eine Krankenakte beschreibt, von der Herstellerfirma des Hefters und dessen Zustand über die durchschnittliche Seitenzahl einzelner Aktenstücke bis hin zu Fotos und Abschriften von verschiedenen Blättern. Erst in den inhaltlichen Abschnitten wird deutlich, warum diese ausführliche Darstellung des eigenen Untersuchungs- und Auswertungsprozesses vorgenommen wurde.
Denn aus den verfügbaren und ausgewerteten Quellen, wie der Gießener Steuerkartei oder den Krankenakten, scheint nicht immer zweifelsfrei hervorzugehen, ob oder ab wann die einzelnen Personen zwangsweise in Deutschland blieben und arbeiteten. Der ständige Verweis auf die vorangestellten Kriterien des Zwangsarbeiterstatus' soll eine möglichste exakte Eingrenzung der betroffenen Personengruppe ermöglichen, die letztlich 44 der insgesamt 53 belegten ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter am Gießener Universitätsklinikum umfasst - hauptsächlich Frauen aus Osteuropa die haushälterischen Aufgaben nachgehen mussten. Ein Vergleich mit Studien zur Universitätsmedizin in Berlin, Freiburg und Göttingen lässt eine weitaus höhere Anzahl von Zwangsarbeitern für Gießen vermuten, die sich in den verfügbaren Quellen jedoch nicht nachweisen lässt. Dies gilt ebenso für den Einsatz von Zwangsarbeitern unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Die Konzentration von Zwangsarbeitern in der Gießener Heilstätte Seltersberg wird durch einen Vergleich mit den Forschungsergebnissen über das Tuberkulose-Krankenhaus Stillenberg/Westfalen erklärt: Wie in Stillenberg sei auch bezüglich Seltersberg zu vermuten, "dass dieser überproportional hohe Einsatz von Zwangsarbeitern in Zusammenhang mit den hochinfektiösen Patienten steht." (149) Es wird immer wieder deutlich, dass Ergebnisse, die über die bloße Feststellung von Zwangsarbeit hinausgehen, nur über den Umweg solcher Analogieschlüsse möglich waren. In diesen Fällen postuliert Flora Graefe dann auch keine uneingeschränkte Gültigkeit der Ergebnisse, sondern wägt deren Plausibilität ab.
In dem Kapitel zu Zwangsarbeitern als Patienten der Psychiatrischen und Nervenklinik gelingt es der Autorin aufgrund einer besseren Quellenlage, die konkreten Lebensbedingungen dieser Menschen in den Vordergrund zu stellen. Durch teilweise überlieferte, persönliche Aussagen der Patienten sowie Berichten von Ärzten, dem Pflege- und Wachpersonal und den Vergleich mit deutschen Patienten zeichnet die Autorin ein eindrückliches Bild der Behandlung von Zwangsarbeitern. Dabei lässt sich eine Ausgrenzung und Ungleichbehandlung an sich nicht nachweisen. Die zumindest formelle Gleichbehandlung scheint aber nur für den speziellen Fall der Psychiatrischen und Nervenklinik zuzutreffen, in den anderen klinischen Abteilungen versuchte man weitestgehend, stationäre Behandlungen zu vermeiden und eine Separierung von deutschen und osteuropäischen Patienten vorzunehmen. Was sich zudem in den Diagnosen und Empfehlungen der behandelnden Ärzte widerspiegelt, ist die ideologisch kontaminierte Abwägung von Krankheit und Arbeitsfähigkeit, welche in mindestens einem Fall zur Ermordung einer Zwangsarbeiterin in Hadamar führte. Generell vermutet die Autorin, dieses Mal gestützt auf den Vergleich mit der Münchener Nervenklink, aufgrund des überproportional hohen Anteils weiblicher Zwangsarbeiter-Patienten eine geschlechtsspezifische Pathologisierung. (164f.)
Leider besteht das letzte Kapitel zu Zwangsarbeitern als "Objekten" medizinischer Forschung lediglich aus 2 Seiten, basiert auf keiner eigenen Quellenuntersuchung und gibt nur die Erkenntnisse vorhergehender Studien wieder. Man kann diesbezüglich durchaus kritisieren, dass der Titel mehr verspricht als der Inhalt von Flora Graefes Dissertation zu halten vermag. Dennoch hat es die Autorin durch ihre bedachte Herangehensweise vermocht, auf schmaler Quellengrundlage eine erkenntnisreiche und differenzierte Studie vorzulegen.
Anmerkungen:
[1] Robert Jütte in Verbindung mit Wolfgang U. Eckart, Hans-Walter Schmuhl und Winfried Süß: Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 2011, 9.
[2] Helga Jakobi / Peter Chroust / Matthias Hamann: Aeskulap & Hakenkreuz. Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät in Gießen zwischen 1933 und 1945. Frankfurt am Main 1989.
[3] Dieter Speck: Universitätskliniken und Zwangsarbeit: Das Beispiel Freiburg, in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hgg.): Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von "Ausländern" im Gesundheitswesen. Frankfurt am Main/New York 2004, 231-252.
Mathias Schütz