G.R. Boys-Stones / J. H. Haubold (eds.): Plato and Hesiod, Oxford: Oxford University Press 2010, IX + 362 S., ISBN 978-0-19-923634-3, GBP 60,00
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Der vorliegende Sammelband ist aus einer Tagung zum Thema "Plato and Hesiod" (Collingwood College, Durham, 25. - 27. Juli 2006) hervorgegangen. Erklärtes Ziel der Herausgeber ist es, eine seit Langem klaffende Forschungslücke zu füllen: Mit Ausnahme von Friedrich Solmsens Überblicksartikel von 1962 [1] sei die Beziehung Platons zu Hesiod noch nie systematisch in den Blick genommen worden. Dies überrasche umso mehr, als Platons "close and complicated relationship with the Greek poetic tradition" (1) insgesamt schon häufig Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden ist, wie George R. Boys-Stones und Johannes H. Haubold in ihrer Einleitung betonen.
Die Konzentration auf Platons Beziehung zu Hesiod vermag in mehrerlei Hinsicht weiterführende Erkenntnisse zu liefern: Erstens kann so Hesiods Rezeptionsgeschichte beleuchtet und damit die Rezeption archaischer Lyrik im spätklassischen Athen insgesamt in den Blick genommen werden; zweitens lässt sich die Bedeutung Hesiods und der hesiodischen Dichtung für Platon untersuchen; und drittens können durch einen direkten Vergleich Bezüge zwischen den Texten beider Denker aufgezeigt und sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede analysiert werden.
Mit Hesiods Rezeption durch Platon, aber auch darüber hinaus, befassen sich die Beiträge von Haubold (11-30), Boys-Stones (31-51), Glenn W. Most (52-67) und Barbara Graziosi (111-132). Haubold setzt sich mit den in Hesiods Werk selbst angelegten biographischen Narrativen auseinander und eruiert deren Einfluss auf die spätere Hesiodrezeption. Sowohl der junge Hirte in der 'Theogonie' als auch der erfahrene Bauer in den 'Werken und Tagen' sind demzufolge mit verschiedenen Formen des Wissenserwerbs und der Wissensvermittlung verbunden: Während die 'Theogonie' den Menschen nur über die Erzählung der Musen zugängliches und dadurch nicht überprüfbares Wissen bietet, schöpft der Autor der 'Werke und Tage' aus einem Fundus eigener Erfahrungen, die ihm den Erwerb praktischen, rein 'menschlichen' Expertenwissens ermöglicht haben. Einen Schritt zu weit geht Haubold jedoch, wenn er Hirten und Bauern auf unterschiedlichen Zivilisationsstufen verortet und damit "a recognizable development from divine to human knowledge, and from myth to reason" (30) innerhalb des hesiodischen Oeuvres postuliert. Sinnvoller scheint es, von einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Wissensformen und damit auch von unterschiedlichen Formen der Wissensetablierung und -begründung auszugehen.
Auch Most und Boys-Stones beschäftigen sich mit der Entwicklung intellektueller und epistemologischer Formen von der Archaik zur Klassik. Boys-Stones etwa ordnet Hesiod in die in Platons Dialogen mehr oder weniger implizit angelegte Philosophiegeschichte ein und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Platon den archaischen Dichter als Teil der eristisch-agonistischen Tradition ansah, die in den Sophisten kulminierte und als Kontrastfolie zu Platons eigener, dialektisch-didaktischer Konzeption des philosophischen Miteinanders fungierte. Als zentraler Bestandteil des intellektuellen Feldes werden Hesiods Werke auch von Graziosi verstanden. Sie untersucht die Rolle rhapsodischer Performance und rhapsodischen Wissens und damit auch der Fähigkeit, Dichtung zu rezitieren und zu interpretieren, innerhalb der politischen Öffentlichkeit Athens im 4. Jahrhundert v. Chr.
In einem zweiten Schritt lässt sich Hesiods Bedeutung speziell für Platon eruieren. So fungiert Hesiod - gemeinsam mit Homer - bei Platon häufig als Referenzrahmen für die irrigen und ethisch problematischen Götterdarstellungen 'der Dichter' und für die daraus abgeleitete Alltagsmoral. Andererseits stellt sich Platon durch diese Kritik jedoch auch in eine letztlich auf Hesiod zurückgehende 'didaktischen Tradition' (1). Und Platons Verknüpfung der Götter mit Gerechtigkeit und Moral hat einen frühen Vorläufer in der engen Beziehung zwischen Zeus und Dike bei Hesiod. Während Naoko Yamagata (68-88) und Andrew L. Ford (133-154) das Verhältnis von Homer zu Hesiod beziehungsweise von Hesiods 'Theogonie' zu den 'Werken und Tagen' innerhalb der platonischen Dialoge auswerten, beschäftigt sich Hugo Koning (89-110) auf allgemeinerer Ebene mit Platons Hesiodrezeption. Er zeigt auf, dass Hesiod gemeinsam mit Homer als Autorität auf dem Gebiet der Moral und Ethik, aber vor allem auch des religiösen Wissens galt und in dieser Eigenschaft von Platon kritisch beurteilt wurde. Ebenso wie Boys-Stones betont auch Koning die breite Rezeption Hesiods durch die Sophisten, und zwar in so unterschiedlichen Bereichen wie der Moral, der Etymologie und der Genealogie. Diese "willful affiliation" (109) der Sophisten mit den Dichtern, so Koning, erlaubte es Platon, beide als Exponenten ein- und derselben schädlichen Paideia anzusehen und zu bekämpfen. Konings Beitrag macht somit deutlich, dass die von Boys-Stones referierte Abgrenzung Platons von einer agonal ausgerichteten "noisy but unproductive tradition characterized by eristic" (50) selbst agonale und ausgesprochen kämpferische Züge trägt.
Der weitaus größte Teil der Beiträge beschäftigt sich mit einzelnen platonischen Dialogen und Dialogauszügen, die zu Hesiods Werk in Beziehung gesetzt werden. Als Beispiele seien hier erwähnt: der Vergleich zwischen Hesiods 'Weltzeitaltermythos' mit Platons 'Metallmythos' aus der 'Politeia' (Helen Van Noorden: 176-199) beziehungsweise mit seiner Erzählung vom 'Zeitalter des Kronos' im 'Politikos' (Dimitri El Murr: 276-297; Christopher Rowe: 298-316) sowie vor allem natürlich die Gegenüberstellung von Platons kosmologisch-theologischen Entwürfen im 'Timaios' und im 'Kritias' mit Hesiods 'Theogonie' (Andrea Capra: 200-218; E. E. Pender: 219-245; David Sedley: 246-258; Mario Regali: 259-275). Vor allem Pender und Sedley gelingt es dabei, das Spannungsfeld zwischen Platons Anlehnung an Hesiods Darstellung und seiner Akzentuierung anderer Aspekte zu umreißen, etwa im Hinblick auf die Rolle der Götter und des Demiurgen, die Frage nach dem Zustand vor der Erschaffung des geordneten Kosmos oder nach dem Verbleib des Chaos innerhalb der Welt. Weniger überzeugend ist hingegen die These von Vered Lev Kenaan (157-275), wonach Sokrates in Platons 'Symposion' als "Pandora figure" (157) angelegt sei.
Als sinnvoll erweist sich der Aufbau des Bandes vom Allgemeinen zum Besonderen hin, also von Beiträgen, die sich auf breiterer Basis mit der Beziehung zwischen Platon und Hesiod auseinandersetzen, zu Beiträgen, die einzelne Dialoge oder Dialogauszüge analysieren. Aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen und Zielsetzungen der Autorinnen und Autoren ergibt sich dabei ein buntes und vielfältiges Bild, das nicht nur literaturwissenschaftliche, sondern auch rezeptions- und philosophiegeschichtliche Perspektiven auf die Beziehung Platons zu Hesiod eröffnet.
Anmerkung:
[1] Friedrich Solmsen: Hesiod Motifs in Plato. In: Hésiode et son influence (Entretiens sur l'antiquité classique 7), Genf 1962, 171-211.
Katarina Nebelin