Christiane Sourvinou-Inwood: Athenian Myths and Festivals. Aglauros, Erechtheus, Plynteria, Panathenaia, Dionysia, Oxford: Oxford University Press 2011, XIII + 377 S., ISBN 978-0-19-959207-4, GBP 75,00
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Vorliegendes Werk der 2007 verstorbenen Autorin hat sein Erscheinen Robert Parker zu verdanken, der das Manuskript kürzte und überarbeitete und Teile der sehr detaillierten Argumentation (und Polemik) ausklammerte oder in den Fußnoten unterbrachte. Dennoch bleiben Ungleichgewichte und ein Teil der Argumentationsketten ist nicht mehr zu Ende geführt. Die mühevolle Editionsarbeit hat sich aber eindeutig gelohnt. Denn Christiane Sourvinou-Inwood ging auch in diesem Buch mit der aus zahlreichen Beiträgen bekannten Akribie zu Werke, die ebenso wie das methodische Reflexionsniveau die Anstöße ermöglichte, die von ihren Überlegungen für die Erforschung der griechischen Religion ausgegangen sind.
Ihr roter Faden war hier die Frage nach der Bedeutung der 'Geschlechter' (Gene) für einige athenische Staatsfeste und nach deren kultisch-symbolischem Gehalt. Bestandteile vor allem der Städtischen Dionysien, der Plynteria, Kallynteria und Panathenäen ebenso wie ihre rituelle und mythologisch-aitiologische Basis werden ebenso wie ihre Beziehungen zueinander genauestens betrachtet. Sourvinou-Inwood bemüht sich intensiv zu klären, welche verlässlichen Aussagen aus den meist wesentlich späteren mythologischen und vielfach widersprüchlichen Quellen über das komplexe rituelle Gerüst und den Sinngehalt der verschiedenen Riten und Zeremonien gewonnen werden können. Altes und Neues, kultaitiologisches Material und mythographische Konstruktionen sind dabei bekanntlich nur schwer voneinander zu unterscheiden. Dennoch lässt sich erschließen, wie stark verschiedene Gene in die Mythen, Rituale, die Verwaltung etc. bestimmter Feste einbezogen waren.
Hier können nur Teile der von Sourvinou-Inwood eingeschlagenen Interpretationspfade und Ergebnisse skizziert werden:
Zunächst definiert Sourvinou-Inwood einige Begriffe, die sie im weiteren benötigt, um Verzerrungen zu vermeiden, die durch die Verwendung gängiger moderner Termini entstehen könnten. Sie verweist in Kap. 1 zudem auf die Fruchtbarkeit einer komparatistischen Betrachtungsweise, die dazu beitragen soll, den rituellen Konnex der untersuchten Feiern herauszuarbeiten. Die Autorin hebt die Kategorie der 'panathenischen' bzw. "whole polis festivals" hervor. Diese involvierten die ganze Polis; ihr Ablauf bezog deren verschiedene Unterabteilungen ein, stützten sich also nicht auf exklusive Teilgruppen. In ihrem Rahmen konnten sowohl includierend die Beteiligung aller Bürger und auch von Fremden (Metöken, Kolonisten, Bundesgenossen) an den Festzeremonien betont werden, wobei die Polis sich als offenes System präsentierte, als auch Abgrenzungen signalisiert werden. Die Feste leisteten so ihren Beitrag zur ideologischen Konstruktion des demokratischen Athen.
Anschließend (Kap.2: 24-134) wendet sich Sourvinou-Inwood der Analyse des Aglauros-, Erechtheus- und Erichthonios-Mythos zu bzw. den mythopoetischen Prozessen der Entstehung und Wandlung dieser Figuren im Verlaufe der Jahrhunderte. So war Aglauros ursprünglich die erste Priesterin Athenas, die ihr Leben für die Stadt opferte (daher ihre rituelle Bedeutung für die Epheben), während ihre Verbindung mit Erichthonios erst auf einer Konstruktion des 5. Jahrhunderts fußte. Die Differenzierung des Erechtheus-/Erichthonios-Mythos in verschiedene Schichten führte zu einer genealogischen Umsetzung der Aglauros, welche zu einer Tochter des Kekrops wurde. Die von Sourvinou-Inwood ins 5. Jahrhundert datierte neue Verbindung der Kekropidai mit Erichthonios, und die Erklärung ihres Todes mit der Übertretung des Verbotes, das Körbchen zu öffnen, in dem jener lag, schmälerte nicht die bedeutende Rolle der Aglauros bei Ritualen wie dem Ephebeneid, den an ihren Tod anknüpfenden, von ihrer Mutter Praxithea gestifteten Plynteria und den Kallynteria, bei denen ältere Aspekte ihres Mythos bestimmten.
Die vielschichtige Gestalt des 'komplexen' Erechtheus wurde mit der Zeit aufgespalten in zwei Figuren, Erichthonios und den "post-split-Erechtheus". Die ursprüngliche Erechtheus-Figur war gleich nach dem Wettstreit zwischen Poseidon und Athena um Athen angesiedelt. Sie war verknüpft mit identitätsstiftenden poliaden Kulten, mit der Einrichtung der Panathenäen und dem Beginn der Verehrung einer angeblich vom Himmel gefallenen Statue Athenas. Eleusis und Eumolpos versuchten im Krieg gegen Athen noch einmal die Entscheidung zugunsten Athenas als Stadtgottheit zu revidieren. Eumolpos galt in einer Version als Sohn des Poseidon und nicht als Thraker. Der "post-split Erechtheus", weitgehend reduziert auf Eumolpos' Abwehr, behielt seine Funktion als Bindeglied zu Poseidon, wobei ihre Kultassoziation die Schutzfunktion des Gottes (als Komplementär zur poliouchen Athena) für Athen garantierte, während der in die Frühzeit angesetzte Erichthonios vor allem die Autochthonie repräsentierte, aber auch die Verknüpfung mit der hölzernen Athenastatue, der Panathenäengründung und der Erfindung des Wagens übernahm, die wiederum mit dem Panathenäenagon der Apobaten korrespondierte. [1]
Aglauros war besonders mit den Plynteria und den Kallynteria verbunden (Kap.3: 135-224). Sourvinou-Inwood gelangt zu dem Ergebnis, dass während des ersten Festes die Statue der Polias rituell im Meer gewaschen wurde (beim Tempel der Athena Skiras) und nicht das Palladion! Dies erschließt sie u.a. aus der Tatsache, dass die Priesterin der Aglauros, die während beider Feste bedeutende Aufnahmen erfüllte, aus dem Geschlecht der Salaminioi kam und Brotlaibe im Heiligtum in Phaleron erhielt. Epheben führten die Statue dorthin. Dazu passt, dass Aglauros eine kourotrophische Figur war, die sich für die Polis aufgeopfert hatte. Die Plyntrides wuschen den benutzten Peplos, nachdem die Statue entkleidet war; danach wurde sie in einem Wagen nach Phaleron gebracht, in der See gewaschen, um sodann durch Angehörige der Praxiergidai in einen Chiton eingekleidet zu werden. Im Thargelion folgten wohl sogleich auf die Plynteria die Kallynteria (beide vom 25.-28. gefeiert). Dies bedeutete eine unmittelbare Abfolge von Verunreinigung und Reinigung, Abnormalität und Normalität, Primordialität und Gegenwart. Die Plynterien als das Fest, das an die erste Reinigung des heiligen Gewandes nach langer Zeit erinnerte, beendete die Periode der Abnormalität, die mit der Amtsaufnahme durch die Praxiergidai und damit dem Beginn ihrer Kontrolle über Athenas Tempel auf der Akropolis, seine Schlüssel und die Statue begonnen hatte und mit der Rückführung letzterer von Phaleron endete, welche die Etablierung als poliade Gottheit erneuerte.
Kapitel 4 (225-262) wendet sich gegen die Annahme, dass eine attische Version des Mythos, wonach Demophon das (echte) Palladion aus Troia nach Attika gebracht hatte, die als einzige Variante eine Waschung der Statue durch den Theseiden beinhaltet, als Aitiologie einer in Athen geltenden Kultpraxis zu verstehen ist. Sourvinou-Inwood argumentiert, dass in die zugrunde liegende Schilderung des Patmos Scholions zu Dem. 23,71 Elemente eingewoben wurden, die aus einem anderen Kultzusammenhang stammen und durch spätere Mythographie fälschlich in den Palladionmythos integriert wurden, eine Analyse des Mythos, die logisch erscheint.
Kapitel 5 (263-311) diskutiert u.a. die Darstellung der Übergabe des peplos (nach Smarczyk der alte, abgelegte), im Parthenonfries, die verschiedenen aitiai-Varianten der Panathenäen und die Beziehungen der Panathenäen zu den Plynterien und Kallynterien. Gemeinsam war ihnen das Thema der Erneuerung, das sich am deutlichsten in der jährlichen! Weihung eines neuen Peplos (zu den Großen Panathenäen kam nach Sourvinou-Inwood noch ein eigener, besonders großer Peplos hinzu) manifestierte. Smarczyk arbeitet heraus, wie stark diese Feste Vergangenheit und Gegenwart, die Unordnung der chaotischen Ursprünge und Frühzeit, ihre Überwindung durch positive Anfänge, bes. solcher von Kultinstitutionen, und die gesicherte Ordnung der poliaden Kulte in der Gegenwart miteinander verbanden. Auch der Parthenonfries betonte die zyklische Bestätigung der Schutzfunktion, welche die 12 Götter, vor allem aber die Poliouchos ausübten und auch in elementaren Krisen aufrechterhielten.
Gegen S.D. Lambert vertritt Sourvinou-Inwood in Kap. 6 (312-339) die Auffassung, dass bei den Städtischen Dionysien, die Spiegel der gesamten Polis waren, keine gentilizische Priesterschaft Regie führte und das erst im Hellenismus bezeugte Genos der Bakchiadai auch nicht von alters her mit dem Kult des Dionysos Eleuthereus verknüpft war.
Kernfrage des Kap. 7 (340-353) ist, ob es Parameter für den Grad der Beteiligung der Gene an athenischen Festen gibt. Panathenäen und die Städtischen Dionysien standen auf der einen Seite des Spektrums, das wenige oder keine gentilizischen Anteile und Einflüsse aufwies, auf der anderen die eleusinischen Mysterien. Den Unterschied machten Faktoren wie die Exklusivität bestimmter Riten und das Maß, in dem auf kultisches Geheimwissen zurückgegriffen werden musste, aus. Obwohl dieses letzte Kapitel unvollendet geblieben ist, stützen sich auf dessen Ergebnisse schon andere Teile des Buches, die wiederum die hier vorgestellten Überlegungen mit tragen.
Unvollständig wirkt die Ausstattung des Bandes mit Abbildungen, welche die diskutierten ikonographischen Szenen nur teilweise abdecken.
Anmerkung:
[1] Ganz anders zu dieser Figur und ihrer Entstehungszeit zuletzt Ch. Doyen: Poséidon souverain: contribution à l'histoire religieuse de la Grèce mycénienne et archaique, Brüssel 2011, Kap.1.
Bernhard Smarczyk