Rezension über:

Jörn-Michael Goll: Kontrollierte Kontrolleure. Die Bedeutung der Zollverwaltung für die "politisch-operative Arbeit" des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 44), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 494 S., ISBN 978-3-525-36920-3, EUR 64,95
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Rezension von:
Roger Engelmann
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Roger Engelmann: Rezension von: Jörn-Michael Goll: Kontrollierte Kontrolleure. Die Bedeutung der Zollverwaltung für die "politisch-operative Arbeit" des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/20225.html


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Jörn-Michael Goll: Kontrollierte Kontrolleure

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Die Zollverwaltung war das kleinste "Sicherheitsorgan" der DDR und hat bisher das Interesse der Forschung kaum auf sich gezogen; sie stand somit auch nach 1990 im Schatten ihrer ehemaligen "Partnerorgane" Staatssicherheit, Volkspolizei und Grenztruppen. Es ist das Verdienst der vorliegenden Monografie, dass sie dieses Forschungsdefizit mit ihrem Erscheinen gleichsam auf einen Schlag beseitigt hat. Denn die Studie liefert ein gutes Stück Grundlagenforschung zu allen wesentlichen thematischen Aspekten, die sich mit dieser Institution verbinden. Dass sie die Verflechtungen mit dem Ministerium für Staatssicherheit zum Hauptthema macht, liegt in der Sache begründet. Kaum ein anderes Staatsorgan dürfte seit den 1960er Jahren so intensiv zu einer Filiale der DDR-Geheimpolizei degradiert worden sein wie der DDR-Zoll.

Das große Interesse des MfS an den Zollorganen ergibt sich aus deren Aufgaben, die vor dem Hintergrund des hypertrophen Sicherheitsdenkens der SED-Machthaber von großer "sicherheitspolitischer" Bedeutung waren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen die vom Zoll durchgeführten Kontrollen von Gepäck und Fahrzeugen an den Grenzübergangsstellen, die für die Vereitelung von Fluchtversuchen und die Verhinderung der Einfuhr politisch unerwünschter westlicher Publikationen zentral waren. Letzteres spielte u. a. auch bei der Kontrolle der Paketpost eine große Rolle, bei der es sich offiziell um eine Angelegenheit des Zolls handelte, in die die Abteilungen Postzollfahndung des MfS aber als faktisch übergeordnete Kontrollinstanz intensiv involviert waren. Zudem war die Zollverwaltung in ihrem Aufgabenbereich auch ein "Untersuchungsorgan" gemäß Strafprozessordnung der DDR, also für strafrechtliche Ermittlungen zuständig. Konkret war diese Kompetenz bei ihrer Abteilung Zollfahndung angesiedelt, die sich ebenfalls fest im Griff des MfS befand. Das zeigte sich etwa im Devisenverfahren gegen Robert Havemann 1979, das die Stasi offiziell über das Untersuchungsorgan der Zollverwaltung laufen ließ. Dieser aufschlussreiche und gut dokumentierte Fall [1] wird in der vorliegenden Arbeit allerdings nur kurz erwähnt.

Zunächst fiel auch die Ausweiskontrolle an den Grenzübergangsstellen in den Zuständigkeitsbereich des Amtes für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (AZKW), dem Vorläufer der DDR-Zollverwaltung, doch diese Aufgabe ging 1962 - wegen der zahlreichen Fluchten mit falschen oder gefälschten Ausweisen nach dem Mauerbau - an die Staatssicherheit über. Von jetzt an war das MfS mit seinen Passkontrolleinheiten an den Grenzübergangsstellen fest verankert und fungierte dort als eine dem Zoll faktisch übergeordnete Instanz.

Wie die Studie detailliert zeigt, sicherte ein dichtes Geflecht von offiziellen und inoffiziellen Strukturen und Regelungen den umfassenden Zugriff der Staatssicherheit auf die Zollverwaltung. Auf der offiziellen Ebene waren das die Informations- und Abstimmungspflichten der Zollverwallung gegenüber dem MfS. Entscheidender waren allerdings die inoffiziellen Kompetenzen der Geheimpolizei, die vom unbegrenzten Zugriff auf alle Datenspeicher der Zollverwaltung bis hin zur Möglichkeit reichten, wichtige Entscheidungen des Zolls durch "Offiziere im besonderen Einsatz" (OibE) zu beeinflussen. Solche OibE, die dem MfS dienstrechtlich unterstanden, platzierte das MfS in nahezu allen Schlüsselstellungen seines "Partnerorgans". Im Jahre 1983 führte allein die Stasi-Hauptabteilung VI (Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs) in der Zollverwaltung 44 OibE, darunter den Leiter der Zollverwaltung Gerhard Stauch und seinen für das Fahndungswesen zuständigen Stellvertreter sowie die Leiter der Abteilungen Zollfahndung und Zollermittlung. Unter Berücksichtigung der anderen MfS-Diensteinheiten beschäftigte die Stasi rund 80 OibE in Schlüsselstellungen des DDR-Zolls. Dass alle Abteilungen der Zollverwaltung darüber hinaus noch mit einem dichten Netz von inoffiziellen Mitarbeitern überzogen waren, sei hier nur am Rande erwähnt.

Die Studie gliedert sich in sechs Kapitel, die die Organisationsgeschichte des DDR-Zolls, Grundlegendes zum MfS, die Aufgabenverflechtung von Stasi und Zoll (in einem weiteren, eigenen Kapitel anhand von zwei Fallbeispielen veranschaulicht) und die verschiedenen Dimensionen der Stasi-Kontrolle behandeln. Außer der Organisationsgeschichte konzentrieren sich die Darlegungen auf die 1970er und 1980er Jahre. Die Quellengrundlage der Arbeit ist beeindruckend, hervorzuheben ist die Vielzahl der verwendeten Stasi-Unterlagen. Auf diese Weise gelingt dem Autor eine dichte Institutionengeschichte, bei der immer wieder auch lebensweltliche Dimensionen aufscheinen, die sich aus 23 Zeitzeugengesprächen speisen. Er liefert darüber hinaus die bisher erschöpfendste Studie zum asymmetrischen "politisch-operativen Zusammenwirken" des MfS mit einem anderen DDR-Staatsorgan, das von einer eigentümlichen Mischung aus offizieller Zusammenarbeit und inoffizieller Kontrolle und Instrumentalisierung geprägt war. Erstaunlicherweise behandelt der Autor diesen Begriff nur beiläufig und konzentriert sich stattdessen in seinem Kapitel über das MfS auf den sehr allgemeinen und daher für seine Arbeit deutlich weniger relevanten Begriff der "politisch-operativen Arbeit". Überhaupt führen die Ausführungen in diesem Kapitel (und manchmal auch an anderer Stelle) zu weit von den Kernthemen der Arbeit weg.

Eine Straffung auch im Sinne einer stärker synthetisierenden und analysierenden Darstellungsweise wäre an der einen oder anderen Stelle günstig gewesen. Doch diese Schwäche beeinträchtigt den Wert der Arbeit nicht wesentlich. Die Studie besticht durch ihre empirischen Qualitäten, nicht so sehr durch theoretische Höhenflüge und methodische Pirouetten. Zuweilen trägt sie einen regelrechten Handbuchcharakter: Der Anhang z. B. enthält die Kurzbiografien der wichtigsten leitenden Funktionäre der Zollverwaltung und die chronologische Auflistung der grundlegenden dienstlichen Bestimmungen des Zolls sowie der entsprechenden MfS-Regelungen. Die Publikation liefert somit ein außergewöhnlich solides (und komfortables) Fundament für weiterführende und vergleichende Forschungen.


Anmerkung:

[1] Clemens Vollnhals: Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998.

Roger Engelmann