Rezension über:

David Luginbühl / Franziska Metzger / Thomas Metzger et al. (Hgg.): Religiöse Grenzziehungen im öffentlichen Raum. Mechanismen und Strategien von Inklusion und Exklusion im 19. und 20. Jahrhundert (= Religionsforum; Bd. 8), Stuttgart: W. Kohlhammer 2012, 316 S., ISBN 978-3-17-022030-0, EUR 39,90
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Rezension von:
Florian Huber
Bozen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Florian Huber: Rezension von: David Luginbühl / Franziska Metzger / Thomas Metzger et al. (Hgg.): Religiöse Grenzziehungen im öffentlichen Raum. Mechanismen und Strategien von Inklusion und Exklusion im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: W. Kohlhammer 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/11/21104.html


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David Luginbühl / Franziska Metzger / Thomas Metzger et al. (Hgg.): Religiöse Grenzziehungen im öffentlichen Raum

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"Religion", "Grenzziehung" und "öffentlicher Raum" - der von der Fribourger religionshistorischen Schule geprägte Sammelband setzt drei populäre historiographische Schlagwörter in eine erfrischende Verbindung: Auf der Grundlage eines Panels an den Schweizerischen Geschichtstagen im Februar 2010 will der Band den Ort des Religiösen in der modernen Öffentlichkeit ausloten.

Die Ansprüche der Herausgeber waren hoch: In einer theoretisch ambitionierten Einleitung suchen sie begriffs- und diskursgeschichtliche, struktur- und institutionengeschichtliche Ansätze auf einen möglichst transnationalen und verschränkungsgeschichtlichen Nenner zu bringen. Die Begriffe "Religion" und "Grenze" werden systemtheoretisch angegangen: Demnach kennt die Moderne Grenzen zwischen Systemen und gesellschaftlichen Identitäten, die durch "überidentitäre Marker" eben diese Systeme transzendierten. "Religion" bilde sich über die Codierung "Immanenz/Transzendenz" als System aus, wirke aber durch die moralische Zweitcodierung "Gut/Böse" weit über ihre Grenzen hinaus auf andere Systeme wie Kunst, Politik oder Wissenschaft.

Die zeitliche Perspektive der Beiträge ist auf zwei Ebenen angelegt: Eine Langzeitperspektive soll Kontinuitäten und langfristige Wandlungen fokussieren, während auf einer zweiten Ebene sich der Blick auf Sattelzeiten im Sinne Reinhard Kosellecks - religiöse Sattelzeiten mithin - zuspitzt. Diese werden als Zeiten verdichteter Kommunikation verstanden, die von erhöhter Unsicherheit und raschen semantischen Transformationen geprägt waren.

Die 17 Beiträge des Bandes sind auf vier Sektionen verteilt. Zunächst werden Grenzziehungen im religiösen Binnenraum analysiert, dann die Entwicklung von Selbst- und Fremdbeschreibungen des Religiösen untersucht, drittens "Religion" als Grenzmarkierung zwischen nationalen, ethnischen oder politischen Gruppierungen in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und schließlich religiöse Elemente in Universalisierungs- und Zivilisierungsdiskursen durchleuchtet. Die zeitliche Spanne der Beiträge reicht vom ausgehenden 18. bis hinein ins 21. Jahrhundert; ihr geographischer Rahmen umfasst die heutige Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz, die Niederlande, Spanien, Großbritannien und die USA.

Die inhaltliche Breite scheint schließlich geradezu grenzenlos: Der Band umfasst neben klassischen milieu- und politikgeschichtlichen Studien auch medien-, intellektuellen-, philosophie-, pop- und kunstgeschichtliche Fragestellungen sowie theologische und anthropologische Ansätze. In dieser eindrucksvollen thematischen und methodischen Vielfalt, um es gleich vorwegzunehmen, verbinden sich Stärken und die Schwächen des Bandes. Sie zeigt einerseits, wie fortgeschritten und bunt das Ensemble religionshistorischer Fragestellungen und wie vielversprechend und lohnend die Anschlussperspektiven an andere, nicht nur historische, Forschungsfelder mittlerweile sind. Andererseits gelingt es nur wenigen Beiträgen, das theoretische Profil der Einleitung umzusetzen, bei manchen Texten ist nicht klar ersichtlich, welchen Mehrwert sie dem gesamten Projekt zu leisten vermögen.

Manche der Beiträge jedoch greifen die Vorgaben der Herausgeber in methodisch innovativer Weise auf. Herman Paul zeigt mit einem teilweise bereits publizierten Beitrag, wie sich in den Niederlanden nach 1848 unterschiedliche protestantische "styles of belief" und Diskursgemeinschaften ausbildeten. Diese seien im Wesentlichen von einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft und der überpersonalen Reichweite der modernen Medien, vor allem der Presse, geprägt, ja überhaupt erst ermöglicht worden.

Wie sehr religiöser Wandel mit medialen und gesellschaftlichen Umbrüchen zusammenhing, verdeutlicht der Beitrag von Franziska Hupfer über das religiöse Projekt Timothy Learys, einer der zentralen Figuren der Hippiebewegung der 1960er. Leary propagierte eine individualisierte Religion, deren Spiritualität und Transzendenzerfahrung vornehmlich auf den Konsum von LSD basierte. Er entwickelte damit einen "entgrenzten", von den institutionellen, kirchlichen Zwängen losgelösten Religionsbegriff, der stark vom gesellschaftlichen Wandel der 1960er profitierte. Die zentralen Akteure des religiösen Wandels waren auch hier die Massenmedien: Leary wurde geradezu zum Popstar, seine Schriften erreichten hohe Auflagen, er selbst sprach vor über 20.000 Personen. Learys erfolgreiche "Umsemantisierung der Religion" (144) setzte die etablierten Großkirchen unter Druck, die ihre theologischen Konzepte überdenken und anpassen mussten.

"Umsemantisierungen" geht auch Irene Ulrich in ihrem begriffsgeschichtlichen Beitrag über die Semantik des Religiösen in den Zeitschriften "Athenaeum" (1799-1800) und "Rheinischer Merkur" (1814-1816) nach. Obwohl die Ausrichtungen der beiden Medien und die darin beschriebenen sozialen Eigenschaften von Religion stark voneinander abwichen und mithin die Pragmatik des Begriffes sich veränderte, sind doch deutliche semantische Kontinuitäten feststellbar: In beiden ist Religion diesseits- und menschenzentriert definiert.

Wie sich religiöse Grenzen durch Körpertechniken festschreiben lassen, zeigt der anregende Beitrag von Petra Bleich Bouzar und Susanne Leuenberger. In ihrer differenztheoretischen, anthropologisch-empirischen Studie untersuchen sie Körpertechniken schweizerischer Konvertiten und Konvertitinnen zum Islam. Dabei zeigt sich nicht nur, dass die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern entscheidend für die Handlungsräume dieser Muslime ist, sondern dass diese binäre Differenz gerade auch religiös markiert wird. So wird etwa entlang religiöser Grenzen scharf zwischen muslimischen und anderen, westlichen Männlichkeiten unterschieden.

Unter welchen diskursiven Voraussetzungen Religion öffentlich wurde, untersucht der sehr umsichtig ausgearbeitete Beitrag von Franziska Metzger, der im Grunde als empirische Fortführung der Einleitung des Bandes zu lesen ist. Metzger argumentiert, dass um 1800 eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Religion und Moral eintrat. Gerade diese Moralisierung ermöglichte es der Religion "öffentlich" zu werden und weit über ihre systemischen Grenzen hinaus zu wirken. Wie Metzger am Beispiel diverser Texte der britischen Evangelikals aus der Zeit um 1800 aufzeigt, war Moral eine zentrale Kategorie, durch welche konfessionelle Gemeinschaften die Grenzen der Inklusion und der Exklusion regelten und in manchen Themenfeldern, etwa der Abschaffung der Sklaverei, eminent politische Bedeutung erlangten.

Insgesamt betrachtet: Weniger wäre hier mehr gewesen. Man hätte durchaus einige Beiträge weglassen können, um dem Band ein schärferes Profil zu verleihen. In der thematischen Vielfalt gerieten einige Kernanliegen aus dem Blick, so fehlt in manchen Beiträgen die Dimension der Öffentlichkeit ganz. Auch die transnationale Perspektive wird nicht immer verfolgt, wenngleich die Beiträge zum Missionswesen (David Luginbühl, Siegfried Weichlein und Franziska Metzger) hier äußerst aufschlussreiche Akzente setzen. Der heuristische Mehrwert des Konzeptes einer "religiösen Sattelzeit" hätte ebenso stärker herausgearbeitet werden können: Gab es hier religions- oder nationsbedingte Unterschiede? Wovon hingen diese ab? Eine stärkere Berücksichtigung monokonfessioneller Gesellschaften und nicht-christlicher Religionen hätte hier Aufschlüsse geben können.

Obwohl der Band Fragen offenlässt, ist es doch sein großes Verdienst, sie gestellt zu haben. Er bietet eine lesenswerte Bestandsaufnahme der gegenwärtigen religionshistorischen Forschung, die nicht nur zahlreiche Perspektiven versammelt, sondern gleichermaßen neue aufzeigt.

Florian Huber