Rezension über:

Georg S. Schneider: Alois Mertes (1921-1985). Das außenpolitische Denken und Handeln eines Christlichen Demokraten (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 61), Düsseldorf: Droste 2012, 576 S., ISBN 978-3-7700-1912-0, EUR 49,00
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Rezension von:
Heiner Möllers
Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Heiner Möllers: Rezension von: Georg S. Schneider: Alois Mertes (1921-1985). Das außenpolitische Denken und Handeln eines Christlichen Demokraten, Düsseldorf: Droste 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/11/21574.html


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Georg S. Schneider: Alois Mertes (1921-1985)

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Als der 1921 geborene Alois Mertes unerwartet 1985 verstarb, verlor die CDU einen ihrer offensichtlich profiliertesten Außen- und Sicherheitspolitiker. Der ehemalige Diplomat, der zwischen 1972 und bis zu seinem Tod 1985 als Mitglied des Bundestages das außenpolitische Sprachrohr gegen die sozialliberale Ost- und Entspannungspolitik war, zählte dabei zum Kohl-Lager und ist heute so gut wie vergessen. Egon Bahr, zwischen 1966 und 1970 sein wichtigster und heute noch präsenter Gegenspieler auf diesem Politikfeld, erwähnt ihn in seinen Erinnerungen lediglich einmal! Deswegen scheint es für den Verfasser an der Zeit, einen einflussreichen Politiker ohne Hausmacht und Berater der CDU-Vorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Kohl anhand seiner Arbeitsgebiete umfassend auf rund 500 Seiten zu beschreiben, ohne gleich eine Biographie verfassen zu wollen.

Der in der Eifel, im Grenzland geborene und aufgewachsene Mertes, zog mit der Wehrmacht ins Nachbarland Frankreich, das ihm persönlich sehr nahe stand. Nach der Kriegsgefangenschaft - die offensichtlich auch wegen seiner Sprachkenntnisse kurz war, man brauchte Dolmetscher in der Heimat - nahm er das Studium der Geschichtswissenschaft in Bonn auf. Eine akademische Karriere schien vorgezeichnet, denn seine Lehrer Franz Steinbach und Max Braubach förderten ihn (24-33). Ein Stipendium ermöglichte einen Studienaufenthalt in Frankreich und doch entschied sich Mertes gegen eine akademische Karriere.

Auf Invention des Bundeskanzleramtes wurde er 1952 für das Auswärtige Amt angeworben (37) und nach dem Vorbereitungsdienst gleich nach Frankreich versetzt. In Marseille war er von 1954 bis 1956 als Vizekonsul überwiegend mit "technischen Fragen" wie Beurkundungen aller Art befasst. Eine zweite Verwendung an der Botschaft in Paris ermöglichte es ihm von 1958 bis 1963 weitere Kontakte zu namhaften französischen Politikern zu knüpfen und eigene Vorstellungen über die Rolle beider Nationen in Europa zu entwickeln.

Es folgte eine Verwendung an der westdeutschen Botschaft in Moskau ab 1963, die sich allein schon von den Lebensumständen her grundlegend von den Verwendungen im Westen unterschied. Bespitzelung, Leben unter strenger Kontrolle der sowjetischen Gastnation waren nur zwei Umstände, die es Mertes kaum ermöglichten, sich mit der Tätigkeit anzufreunden. Bemerkenswert war jedoch, dass Mertes, nachdem er versuchte persönliche Kontakte aufzubauen und grundsätzlich keine Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheiten mehr akzeptieren wollte, in Moskau 1966 zur "persona non grata" erklärt wurde, was einen geordneten Rückzug nach Bonn bedeutete. Mertes war darüber wenig unzufrieden, musste aber perspektivisch einen "Karriereknick" hinnehmen (86-89), der insbesondere infolge des Regierungswechsels zur großen Koalition, in der Willy Brandt Außenminister war, Folgen zeigen sollte.

Im Auswärtigen Amt wurde Mertes zwar zum Referatsleiter "Europäische Sicherheit und Abrüstung" befördert. Als Parteigänger der Union konnte er sich der folgenden Neuausrichtung des Auswärtigen Amtes und seiner Politik unter Brandt und seinem Planungsstabchef Egon Bahr offensichtlich nicht genügend anpassen: Insbesondere seine Haltung zur Existenz zweier deutscher Staaten unter den Prämissen der aufkommenden Neuen Ostpolitik sowie die Bemühungen des neuen Außenministers um eine Annäherung oder einen Ausgleich mit der Sowjetunion stellten für Mertes zu viele Unwägbarkeiten dar. Dieses drückte sich, wie der Autor akribisch darstellt, vor allem im Konflikt um Formulierungen in den Ost-Verträgen aus, an denen Mertes formal zwar nicht mitwirkte, aber amtsintern doch seine Stellungnahmen zu Gehör brachte. Die Sowjetunion strebte nach einem Quasi-Friedensvertrag dem die sozialliberale Bundesregierung ab 1969 bereit war, verbal weit entgegenzukommen, ohne faktisch einen Friedensvertrag anzustreben. Mertes sah Formulierungen zum gegenseitigen Gewaltverzicht und zur Unantastbarkeit der Grenzen als einen einseitigen Verzicht auf Gebiete, die im Zuge eines umfassenden Friedensvertrages behandelt werden müssten (153ff.).

Es zeigte sich hier, dass Mertes ab 1971 als Berater Helmut Kohls und Leiter der Rheinland-Pfälzischen Landesvertretung beim Bund in Bonn (156ff.) durchaus bereit war, wie dieser den territorialen Zustand der Staaten Mittel-Osteuropas durch einen modus vivendi abzulösen, der zwar eine Art Bestandsgarantie ausdrückte aber nicht zwingend eine Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen in Aussicht stellte. Mertes wollte vielmehr friedliche Veränderungen von Grenzen per se nicht ausschließen, womit es ihm eher um die ehemaligen "Ostgebiete" und deren formal ungeklärte Zugehörigkeit zu Deutschland ging. Gerade das sollte nach seiner Auffassung angesichts der damals noch als "unter polnischer bzw. sowjetischer Verwaltung" stehenden Gebiete beachtet werden. Mertes war kaum bereit, ohne Not auf diese Gebiete zu verzichten. An dieser Stelle verzichtet der Verfasser aber auf Hinweise, dass Helmut Kohl als der kommende Vorsitzende der CDU sich bereits deutlich näher einer neuen Außenpolitik nach Osten und damit den Vorstellungen Brandts und Bahr angenähert hatte, als es Mertes vielleicht bekannt war. Die Haltung der CDU/CSU im Bundestag, aufgrund nicht genügend eindeutiger Formulierungen die Ostverträge durch Enthaltungen bei den entsprechenden Ratifizierungsabstimmungen im Bundestag faktisch abzulehnen, drückt dieses aus: die Verträge spiegeln auch für die Union zwar eine Annäherung an den tatsächlichen politischen Zustand wieder, dennoch war sie nicht bereit, die möglichen politischen Folgen der Formulierungen mitzutragen. (Ob und inwieweit wahltaktische Gründe mitspielten blendet der Verfasser aus.)

Der Autor arbeitet dazu deutlich heraus, dass Alois Mertes nicht erst nach seinem Abschied aus dem diplomatischen Dienst 1971 der geistige Vater der Stellungnahmen der Union war und ihre Kritik an einer möglichen Interpretation der Verträge prägte (172-184). Ein zwischenzeitlich gefundener Konsens zwischen Bundesregierung und Oppositionsparteien zerbrach, als die Bundesregierung den Vertragspartnern in Moskau "meinte" entgegen kommen zu müssen, was in dieser Form die CDU/CSU ablehnte.

Detaillierte Schilderungen der Haltung Mertes zur Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, sei es in der Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Diskussion um den NATO-Doppelbeschluss (467ff.) oder zuvor der Kontroversen um die Unterzeichnung des Nicht-Verbreitungsvertrages von Atomwaffen (101ff.) beschreiben ihn als einen über die Fraktionsgrenzen hinaus anerkannten Fachmann. Doch auch die vom Verfasser verdienstvoll betriebene Beschreibung seiner Arbeit auf diesem Themenfeld kann nicht verdecken, dass die Sicherheitspolitiker der Bundesrepublik Deutschland es nie schafften, breite Teile der Bevölkerung für ihre Argumente zu gewinnen. Der zunehmenden Emotionalisierung der Nachrüstungsdebatte stand Mertes hilflos gegenüber. Sein Credo, man müsse bereit sein zur "Mühsal der Sachkunde" (448) belegt vielmehr, dass die komplexen Begründungen der fachkundigen Politiker in der Gesellschaft kaum Widerhall erzielen konnten. Um es auf den Punkt zu bringen: auch Mertes konnte nie erklären, wieso ein Mehr ans Raketen ein Mehr an Sicherheit erzielen sollte. Sein Gegenspieler in der SPD, Egon Bahr, nannte es schlicht "Raketenschach", und das war ein sehr komplexes "Spiel"!

Georg Schneider widmet sich dem Unterfangen, Mertes eingehend entlang seines weitgehend chronologisch dargestellten Lebensweges vorzustellen, dabei die Wurzeln seines politischen Denkens zu ergründen, ihn in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik sowie im Übergang vom Alleinvertretungsanspruch hin zur neuen Ostpolitik zu verorten. Darüber hinaus werden seine ethischen Motive, religiösen Wurzeln, historischen Erfahrungen und diplomatischen Kenntnisse begleitend beschrieben. Familiäres, Sozialisation in jungen Jahren und Mertes persönliches Umfeld, der Mensch Mertes also, und selbst seine engsten Mitarbeiter und Mistreiter - man denke nur an Werner Marx - während seiner politischen Tätigkeiten, bleiben in der Arbeit leider weitestgehend ausgeblendet.

Auch die weitreichende - ja beinahe ausschließliche - Abstützung auf Schriftgut der CDU sowie von Mertes selbst offenbart eine Schwäche der Arbeit, weil damit Mertes Einbindung in ein von unterschiedlichen Personen und Vorstellungen geprägtes Beziehungsgeflecht auf dem Feld der Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik in ihren Konturen und Grenzen unscharf bleibt.

Das Buch ist gleichwohl lesenswert, weil es die Zusammenhänge der westdeutschen Außenpolitik, die bis zum Fall der Mauer immer auch Sicherheitspolitik war, umfassend skizziert. Der Autor zeigt zudem auf, dass Mertes als Parteipolitiker letztlich scheiterte, weil er kaum Rückhalt in der Partei besaß, die ihn als Spezialisten argwöhnisch betrachtete. Dies lag zuvorderst in seinem hohen intellektuellen Anspruch und Niveau begründet, das ihn nicht zum Sprachrohr der Partei in die Öffentlichkeit werden ließ. - Dass er bei den Wahlen zum Bundestag in seinem Wahlkreis teilweise bis zu 60prozentige Zustimmung erhielt, sucht man vergeblich im Buch. Mertes langjährige Arbeit für die CDU-Parteivorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Kohl sollte nicht verhindern, dass er schließlich als Staatsminister ohne machtvolle Befugnisse im Auswärtigen Amt ruhiggestellt worden war. Hier war er, wie sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher es ausdrückte, "nicht in die Amtshierarchie des Auswärtigen Amtes eingebunden" (455) und damit quasi ohne Einfluss. Die Episode mit Volker Rühe, der als außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion keinen Wert auf die Beschlaumeierung durch einen erfahrenen Diplomaten legte, ist dafür nur der augenfälligste Beleg (464-465).

Heiner Möllers