Rezension über:

Michael Matheus (Hg.): Friedensnobelpreis und historische Grundlagenforschung. Ludwig Quidde und die Erschließung der kurialen Registerüberlieferung (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 124), Berlin: De Gruyter 2012, XII + 640 S., ISBN 978-3-11-025954-4, EUR 119,95
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Rezension von:
Tobias Daniels
Bibliotheca Hertziana, Rom
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Daniels: Rezension von: Michael Matheus (Hg.): Friedensnobelpreis und historische Grundlagenforschung. Ludwig Quidde und die Erschließung der kurialen Registerüberlieferung, Berlin: De Gruyter 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/11/21642.html


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Michael Matheus (Hg.): Friedensnobelpreis und historische Grundlagenforschung

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"Ein Missgriff" sei die Ernennung dessen gewesen, der sich mehr wie ein "Leiter einer Bank oder Fabrik als wie ein Gelehrter" betragen habe, so das Urteil Johannes Hallers (55); "ein wenig Don Quijote", lautete Hermann Heimpels Befund (84). Der 150. Geburtstag des ehemaligen Direktors Ludwig Quidde war dem Deutschen Historischen Institut (DHI) in Rom - trotz solcher Gelehrtenschelte - im Jahr 2008 Anlass, Leben und Werk des Historikers mit einer internationalen wissenschaftlichen Tagung zu würdigen, deren Akten mit dem hier besprochenen Band vorgelegt werden.

Von den durch Heinz Duchardt vorgestellten deutschen Friedensnobelpreisträgern steht ohne Zweifel Willy Brandt am stärksten im öffentlichen Bewusstsein. Sehr viel weniger ist dies bei dem 1927 für sein Engagement in der Friedensbewegung geehrten Ludwig Quidde (1858-1941) der Fall, auch, weil seine von Karl Holl und Kerstin Rahn in der ersten Sektion des Bandes vorgestellte Biographie Brüche aufweist. "Brüchig" (15) ist sie besonders in politischer Hinsicht, denn der gegen den "Caligula" [1] Wilhelm II. polemisierende leidenschaftliche Pionier des deutschen Pazifismus wurde in der deutschen Geschichtswissenschaft lange an den Rand gestellt: "Durch den Caligula wurde [...] alles zerstört", schrieb Quidde in seinen Erinnerungen (82).

Quiddes Talent als Wissenschaftsorganisator und sein Gespür für die Entwicklungen der Zeit ließen den über die Wahl König Sigmunds promovierten Bremer Kaufmannssohn, der sich als Editor in der Älteren Reihe der Deutschen Reichstagsakten verdient gemacht hatte, dem 1888 (sieben Jahre nach der erfolgten Öffnung der vatikanischen Archive durch Papst Leo XIII.) gegründeten Preußischen Historischen Institut in Rom, zu dessen Direktor er 1890 berufen worden war, einen folgenschweren innovatorischen Anstoß geben: Auf Quidde geht die Idee, erste Konzipierung und wissenschaftspolitische Durchsetzung des Repertorium Germanicum (RG) zurück, das heute - gemeinsam mit dem ergänzenden Repertorium Poenitentiariae Germanicum (RPG) - als eines der wichtigsten und anerkanntesten Projekte der historischen Grundlagenforschung gelten kann und seit Quiddes Zeiten systematisch die deutschen Betreffe zu den kurialen Registerserien in Regestenform zugänglich macht.

Quiddes spätere Marginalisierung lag auch in der von ihm vertretenen, seinerzeit wenig opportunen Überzeugung begründet, bei der traditionellen Beschäftigung mit politischer Geschichte laufe man "Gefahr zu vergessen, dass es überhaupt ein Volksleben gibt" (58). So ehrt es ihn, dass das DHI in Rom in den zwei Hauptsektionen des Buches (II und III) - unter Einbeziehung von Daten des in Bearbeitung befindlichen RG-Bandes zum Pontifikat Sixtus' IV. (1471-1484) - die mannigfachen Auswertungsmöglichkeiten des von ihm begründeten Werks aufzeigt und bilanzierende sowie zukunftsweisende Beiträge jüngerer und arrivierterer Autoren zu den weiteren, noch immer (wie das RG selbst) "nationalen" Unternehmen veröffentlicht, um schließlich einen neuen Innovationsschub anzukündigen, der unter dem Direktor Michael Matheus vollzogen worden ist.

Aschkenasische Juden vor der Kurie (Thomas Bardelle, u.a. mit neuen Quellen zum Trienter Judenprozess), der päpstliche Einfluss bei Bistumsbesetzungen im romfernen Livland (Henrike Bolte), deutsche Pfarreien und der Niederklerus (Enno Bünz), die deutschen Frühdrucker in Italien (Arnold Esch), spätmittelalterliche Pilgerfahrten (Gritje Hartmann), das Dispenswesen in der spätmittelalterlichen Buß- und Fastenpraxis (Matthias Klipsch), die Rolle der Päpste für die europäische Universitätsgeschichte (Michael Matheus), der Ordensklerus (Andreas Rehberg), die europäische Musikgeschichte (Adalbert Roth), Eheprozesse (Ludwig Schmugge), kirchliche Finanzen (Christiane Schuchard), das Beginenwesen auf dem Konzil von Vienne (Jörg Voigt) - reichlich Stoff zu all diesen Themen geben RG und RPG den Verfassern in der zweiten Sektion, die ihrerseits mit Recht darauf hinweisen, dass die kurialen Quellen dennoch nicht für sich alleine genommen werden dürfen, sondern soweit wie möglich durch die lokale Überlieferung ergänzt werden müssen.

Doch auch zum Verständnis der römischen Kurie selbst haben seit Quidde die teils für das Unternehmen oder in seinem Umkreis angestrengten diplomatischen und institutionengeschichtlichen Forschungen beachtliche Erkenntnisfortschritte gebracht - so Brigide Schwarz in ihrer magistralen Bilanz.

Aufhorchen darf man angesichts Martin Bertrams Vorüberlegungen zu einer systematischen Erschließung der Akten der Sacra Romana Rota. (Eine Erschließung der Supplikenregister des Basler Konzils und des Gegenpapstes Felix' V. bleibt weiterhin ein Desiderat.)

In der dritten Sektion wird ein Seitenblick auf die wechselhaften Läufe der internationalen Parallelunternehmen sowie die Bedeutung der vatikanischen Quellen für die Geschichte einzelner "Nationen" und Territorien Europas unternommen (Böhmen: Zdeňka Hledíkova; Polen: Marek Daniel Kowalski; Kroatien: Jadranka Neralić; Alpenraum: Paolo Ostinelli; Frankreich: Andreas Sohn; Großbritannien: Patrick Zutshi). Methodisch besonders aufschlussreich ist das von Kirsi Salonen präsentierte Skandinavien, da es dort in partibus kulturbedingt fast kaum mittelalterliche Überlieferung gibt und die vatikanischen Quellen somit besonders unverzichtbar sind.

Angesichts dieses Reigens vielfältiger bestehender Projekte und Interessen erscheint indes die noch heute fortbestehende "nationale" Pragmatik der Forschungsunternehmen und die damit einhergehende künstliche Verengung der Blickwinkel zunehmend anachronistisch, und es liegt auf der Hand, dass eine gesamteuropäische Zusammenführung und Weiterbearbeitung höchst wünschenswert wäre.

Daher erscheint es wie ein Wink mit dem Zaunpfahl, wenn der Band mit einer Präsentation der Grundprinzipien und Recherchemöglichkeiten in der - inzwischen auf dem vom DHI in Rom betriebenen Portal Romana Repertoria [2] online abruf- und durchsuchbaren - integrierten Datenbank zu RG und RPG schließt (Sektion IV, Jörg Hörnschemeyer). Die mit einer solchen Plattform, in die sukzessive neues Material eingespeist werden kann, gewonnenen Recherchemöglichkeiten sind derzeit noch gar nicht abzusehen, insbesondere, wenn diese mit anderen Datenbanken wie dem Repertorium Academicum Germanicum [3] oder der Datenbank zur Germania Sacra [4] verknüpft werden. Unschätzbar wertvoll wäre die Realisierung eines europäischen Kooperationsprojekts.

Mit dieser Publikation macht das DHI in Rom Ludwig Quidde als "Vater" des RG und sich selbst als Forschungsinstitution alle Ehre. Sie sei jedem ans Herz gelegt, der sich über Handhabung und Auswertungsmöglichkeiten von RG und RPG, ihre Wissenschaftsgeschichte und ihre Entwicklungschancen informieren will.


Anmerkungen:

[1] Ludwig Quidde: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, in: Die Gesellschaft 10 (1894), 413-430; ders.: Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, 2. Aufl., Leipzig 1894.

[2] http://www.romana-repertoria.net/ (23.10.2012).

[3] http://www.rag-online.org/ (23.10.2012).

[4] http://adw-goe.de/forschung/forschungsprojekte-akademienprogramm/germania-sacra/ (23.10.2012).

Tobias Daniels