Sylvia Kesper-Biermann / Ulrike Ludwig / Alexandra Ortmann (Hgg.): Ehre und Recht. Ehrkonzepte, Ehrverletzungen und Ehrverteidigungen vom späten Mittelalter bis zur Moderne, Magdeburg: Meine Verlag 2011, 311 S., ISBN 978-3-941305-15-1, EUR 32,95
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Der Ansicht, dass die Ehre als Phänomen oder bestenfalls als Relikt einer vormodernen Lebenswelt zu betrachten sei, sind Forscher verschiedener Disziplinen aus guten Gründen entgegengetreten. [1] Auch die Herausgeberinnen des Sammelbandes, der auf der Grundlage von Beiträgen einer Tagung des Arbeitskreises "Historische Kriminalitätsforschung" in Stuttgart-Hohenheim im Mai 2009 zusammengestellt worden ist, stellen fest, dass im 19. und 20. Jahrhundert "von einem Bedeutungsverlust [...] keine Rede sein kann" (7). Insofern soll mit dem Buch ein epochenübergreifender Vergleich von Ehrvorstellungen im Rahmen unterschiedlicher Rechtssysteme ermöglicht werden. Vor allem der Schutz von Ehre und ihre Instrumentalisierung im Rahmen von Ehrenstrafen stehen im Blickpunkt.
Der erste Aufsatz des Bandes von Andreas Deutsch, in dem der schwierige Versuch unternommen wird, sieben Leitsätze zur gesellschaftlichen Bedeutung der Ehre in der Frühen Neuzeit zu formulieren, zeigt den Konnex zwischen ständischer Gesellschaftsauffassung und den Zuteilungen von Ehre auf. Es geht zentral um Probleme der Rangabstufung, wobei hier häufig die "Unehrlichen Berufe" im Fokus stehen. Der Autor macht deutlich, dass derartige Abstufungen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht große Unterschiede aufwiesen. Nicht ganz nachvollziehen möchte man die Aussage, dass Rechtsgelehrte zwischen einer völligen "Ehrlosigkeit" und einer "Unehrlichkeit bzw. Anrüchigkeit" (26) differenzierten, um die Stellung von Scharfrichtern, Totengräbern etc. zu beschreiben. Der von den Juristen verwendete römischrechtliche Begriff der "levis notae macula" war klar unterschieden vom Begriff der Unehrlichkeit (infamia). [2]
Dass die "Konjunktur der Ehre" gerade nach dem Zusammenbruch des Ancien Régime eher eine Belebung als eine Abschwächung erfuhr, zeigt sich in mehreren Beiträgen. Marc Bors kontrastiert aufgeklärte Stimmen von Juristen, die sich seit dem 18. Jahrhundert immer mehr für die Abschaffung der privaten Ehrverletzungsklage einsetzten, und die Tatsache, dass diese dennoch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum weitgehend erhalten blieb. Das Bedürfnis städtischer Mittelschichten, angesichts einer schwindenden ständischen Ordnung Rangunterschiede zu demonstrieren, wird als Erklärung angeführt. Von ähnlichen Motiven, Prozesse einzuleiten, wird im Beitrag von Wiebke Jensen über Beleidigungsklagen vor dem Göttinger Universitätsgericht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgegangen. Viele Klagen von Dienstmägden gegen ihre Dienstherren sollten aber offensichtlich auch ein Beharren auf Ehre trotz gesellschaftlicher Differenz deutlich machen.
Als besonders anregend für die Ehrforschung dürfen die vergleichenden Studien des Sammelbandes gelten: Erstaunliche Ähnlichkeiten weisen die Systeme der Ehrenstrafen im vormodernen Westeuropa und Ostasien auf. Jörg Wettlaufer geht in diesem Zusammenhang unter anderem auf Pranger- und Prügelstrafen in Japan ein. Als Ursache der Kongruenz sieht er neben der Funktionalität solcher Strafen ihre Einbindung in religiöse Systeme. Im Zuge der Säkularisierung sei, so eine der Thesen, ihre Verbannung aus dem Rechtsleben Westeuropas vollzogen worden. Letztlich habe die Übernahme des französischen Code Pénal im Zuge der Meiji-Revolution in Japan zum gleichen Resultat geführt.
Demgegenüber lässt sich dem Beitrag von Warren Rosenblum entnehmen, dass in modernen politischen Systemen, die auf säkularisierten Rechtssystemen aufbauen, keineswegs zwangsläufig auf Schande als Element von Strafe verzichtet wird. Im Gegensatz zu Deutschland habe der in den letzten Jahrzehnten in den USA gewachsene Zweifel an Wohlfahrtsstaats- und Resozialisierungskonzepten dazu beigetragen, dass dort Degradierung und Entwürdigung weitestgehend anerkannte Bestandteile des Strafsystems seien. Jedoch: Ist nun daraus tatsächlich der Schluss abzuleiten, dass die Gesellschaft der USA das Interesse an der Ehre verloren habe und dass diese in der Strafkultur keinen Platz habe (218) oder wäre nicht eher das Gegenteil zu konstatieren?
Nach wie vor scheint die Unklarheit des Begriffs Ehre dazu zu führen, dass Forscher aneinander vorbeireden. Die Komplexität und Vielschichtigkeit von Ehrsemantiken ist unbestritten. Aus diesem Grunde völlig darauf verzichten zu wollen, sich über Definitionen des Begriffes auszutauschen, führt aber dahin zurück, dass Vokabeln wie "Ehre" und "Honour", auf die im aktuellen Sprachgebrauch eher selten zurückgegriffen wird, eben doch als Indikatoren einer fremdartigen Vormoderne verstanden werden. Hans Wellmann hat vor geraumer Zeit die Nähe des spätmittelalterlichen Begriffs "ere" zu unserem heutigen Begriff von "Identität" herausgestellt. [3] Wäre es, daran anknüpfend, nicht sinnvoll, Ehre als Zuschreibung bzw. Zuweisung von Identität auf der Basis sozialer Normen zu begreifen?
Dass die positive wie negative Zuweisung von Ehre in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsformen und -kontexten auf sehr verschiedenartige Weise praktiziert und funktionalisiert wird, bliebe, wie im vorliegenden Band, der Gegenstand gewinnbringender Forschungen, wobei sich jedoch Begriffe wie "Ehre" und "Würde" oder auch "Unehre" und "Schande" besser miteinander in Beziehung setzen ließen. Dass Ehre etwa auch zu einer "ethnosozialen" (159) Kategorie im Strafrecht werden kann, wie Nina Möllers Aufsatz über Identitätszuweisungen von "white" und "black" in den amerikanischen Südstaaten des 19. Jahrhunderts erkennen lässt, wäre angesichts des geschichtlichen Wandels von Gesellschaften, Konfliktstrukturen, Normsystemen und letztlich auch Identitätskonzepten kaum mehr erstaunlich. Es würde zudem einleuchten, warum sich eine sämtliche Epochen und Kulturräume umfassende Geschichte der Ehre nicht schreiben lässt.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa Vogt, Ludgera / Zingerle, Arnold: Zur Aktualität des Themas Ehre und zu seinem Stellenwert in der Theorie, in: Dies. (Hg): Ehre: archaische Momente in der Moderne, Frankfurt/M., 9-34; Vogt, Ludgera: Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Differenzierung, Macht, Integration. Frankfurt am Main 1997, und: Speitkamp, Winfried: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre. Stuttgart 2010.
[2] Der Zunftrechtsexperte Adrian Beier versuchte zum Beispiel den gesellschaftlichen Makel der Scharfrichter und Abdecker als Erkrankung der Ehre im Gegensatz zu ihrer Nichtexistenz zu erklären: "Maculam esse vitium quoddam seu morbum civilem existimationis adhuc durantis, differeque ab Infamia tanquam Habitum iniquinatum a Privatione". Beier, Adrian: De collegiis opificum. Von der Handwercks-Zuenffte Wesen und sonderbarem Gerichts-Brauch. Jena 1688, 103. Siehe zudem die entsprechende Feststellung, "daß weder die Scharff-Richter oder Henker / noch die Büttel und Schergen [...] für unehrlich zu halten" seien, in: Florinus, Franciscus Philippus: Oeconomus Prudens et legalis oder Allgemeiner Kluger und Rechtsverständiger Haus-Vatter. Frankfurt; Leipzig, 1702, 1. Buch, 58.
[3] Wellman, Hans: Der historische Begriff der 'Ehre' - sprachwissenschaftlich untersucht, in: Backmann, Sybille etc. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. Berlin 1998, 27-39, hier 38.
Ralf-Peter Fuchs