Söhnke Thalmann: Ablaßüberlieferung und Ablaßpraxis im spätmittelalterlichen Bistum Hildesheim (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 254), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2010, 271 S., ISBN 978-3-7752-6054-1, EUR 29,00
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Die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Ablasspraxis ist eines der Forschungsfelder, denen sich die Mediävistik in den letzten Jahren verstärkt zugewandt hat. Spätestens seit der Neuauflage des Standardwerks von Nikolaus Paulus zur "Geschichte des Ablasses im Mittelalter" sind eine Vielzahl von Monographien und Aufsätzen zu unterschiedlichen Aspekten des mittelalterlichen Ablasswesens erschienen. In den meisten dieser Untersuchungen stehen jedoch einzig inhaltliche oder theologische Fragen im Mittelpunkt; hilfswissenschaftliche beziehungsweise urkundenwissenschaftliche Problemfelder werden dagegen zumeist ausgeklammert oder nur ansatzweise behandelt. Im Unterschied dazu rückt Söhnke Thalmann in seiner Göttinger Dissertation von 2009 die Aufarbeitung des überlieferten Quellenmaterials zum Ablasswesen im Bistum Hildesheim während des 13. und 14. Jahrhunderts in den Fokus. Erstmals wird damit das Ablasswesen eines fest umrissenen historischen Raumes in Gänze analysiert. Grundlage dafür ist ein Quellencorpus von rund 450 Urkunden für mehr als drei Dutzend Klöster, Stifte, Pfarrkirchen und Kapellen, der für die gesamte Ablassforschung insofern von zentraler Bedeutung ist, weil die ältesten dieser Hildesheimer Urkunden von 1209 gleichzeitig den Beginn der Ablasspraxis im gesamten deutschsprachigen Raum markieren.
In einem ersten Abschnitt ("Die Quellen und ihre Überlieferung", 17-44) wird zunächst die terminologische und typologische Basis geschaffen. Auf Grundlage von äußeren und inneren Merkmalen werden dabei die Spezifika der Papstbriefe, der als "nichtpäpstliche Papsturkunden" (Thomas Frenz) zu bezeichnenden Legatenurkunden sowie der unter die Privaturkunden zu subsummierenden erzbischöflichen und bischöflichen Ausfertigungen analysiert; außerdem wird eine Einteilung der Quellen in Ablassbriefe/-urkunden, Kollekturablassbriefe, Beglaubigungsurkunden, Bestätigungsurkunden und kombinierte Ablassurkunden vorgenommen. Hinsichtlich der Überlieferungschance von Ablassschriftgut kann Thalmann mit guten Gründen nachweisen, dass diese insgesamt weit besser ist, als bisher angenommen.
Das zweite Kapitel ("Der Ablaß", 45-82) bietet eine Beschreibung des Phänomens 'Ablass' aus dezidiert historischer (nicht theologischer) Perspektive. Hinsichtlich der Ablasshöhen, deren kanonische Grundlage die Bestimmungen des Lateranense IV von 1215 waren, wird die Entwicklung im 13. und 14. Jahrhundert anhand des umfangreichen Quellenmaterials nachgezeichnet. In Bezug auf die 'Ablassbedingungen' lehnt Thalmann mit nachvollziehbaren Argumenten die von Nikolaus Paulus vorgenommene Unterscheidung zwischen Devolutionsablässen und wohltätigen Ablassverleihungen ab; zu differenzieren seien vielmehr mobile (Kollektur-)ablässe als außerordentliches Instrument der Geldbeschaffung etwa zur kirchlichen Baufinanzierung und zur Unterhaltssicherung geistlicher Einrichtungen sowie ortsgebundene Ablässe (beim Kirchenbesuch). Bei den Ablasstagen und Ablasszeiten lässt sich für das Bistum Hildesheim (und darüber hinaus) eine schrittweise Ausweitung feststellen: Waren die Ablasszeiten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts durch den spezifischen Festkalender der begünstigten Kirchen und Orden bestimmt, traten zunächst seit etwa 1250 Konsekrationsfeste von Nebenaltären hinzu, bevor ab etwa 1270 Festkomplexe von gesamtkirchlicher Bedeutung sukzessive in die Ablasspraxis Einzug erhielten.
Im Anschluss daran werden in drei Kapiteln die am Ablassgeschäft beteiligten Institutionen und Personen behandelt, nämlich Prälaten als Ablassgeber (83-124), Klöster, Stifte, Pfarrkirchen und Kapellen als Ablassanbieter (125-208) und die Gläubigen als Ablassnehmer (209-218). Die insgesamt 40 päpstlichen Indulgenzen wurden von den Hildesheimer Empfängern vornehmlich bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts erwirkt. Danach wandte man sich jedoch nur noch selten an die Kurie - wohl aufgrund der Konkurrenz der nun üblichen und finanziell günstigeren bischöflichen, erzbischöflichen und weihbischöflichen Ablassverleihungen. Gleichsam eine Übergangsperiode stellte die Anwesenheit des päpstlichen Legaten Hugo von S. Sabina dar, der zwischen 1251 und 1253 allein 15 Indulgenzen für hildesheimische Empfänger ausstellte.
Ein knappes Drittel der gesamten Untersuchung macht die detaillierte Darstellung der Ablassanbieter aus, also derjenigen kirchlichen Institutionen, die Ablässe zur Steigerung ihrer Einkünfte erwirkten. Aus gutem Grund wird dabei differenziert nach Säkularkanoniker- und Kanonissenstiften, Augustinerchorherrenstiften und -chorfrauenstiften, Benediktiner- und Benediktinerinnenklöstern, Zisterzienser- und Zisterzienserinnenklöstern, Magdalenerinnenklöstern, Bettelordens- und Ritterordensniederlassungen sowie Niederkirchen (vornehmlich die Braunschweiger Pfarrkirchen, Kapellen und Hospitäler). Wünschenswert wäre (nicht nur) hier eine zusammenfassende Bewertung der Ergebnisse gewesen. Überaus deutlich lassen sich nämlich quantitative und qualitative Unterschiede des Ablasserwerbs erkennen: Das Gros der Ablässe erwarben die Stifte, gefolgt von den Benediktiner- und Magdalenerinnenklöstern. Für die Zisterzienserklöster sowie die Bettelordens- und Ritterordensniederlassungen hatte das Ablasswesen dagegen eine geringere Bedeutung; ob bei diesen Institutionen tatsächlich große Urkundenverluste zu konstatieren sind, da "man mit großer Wahrscheinlichkeit eine ausgeprägte Ablaßpraxis dieser Einrichtungen annehmen darf" (254), ist wohl zu bezweifeln.
Die Frage nach dem Vermittlungsvorgang vom Ablassgeber über den Ablassanbieter an den Ablassnehmer steht im Blickpunkt des letzten Kapitels ("Vermittlung des Ablasses - Erwerb, Verwahrung, Präsentation", 219-248). Behandelt werden dabei einerseits Fragen des finanziellen Aufwands für den Erwerb von päpstlichen wie bischöflichen Ablassurkunden, des kurialen und nichtkurialen Geschäftsgangs sowie des Urkundenformulars. Andererseits stellt Thalmann auf Grundlage der Autopsie der erhaltenen Originalurkunden fest, dass der überwiegende Teil der Indulgenzen in den Archiven und nicht im Kirchenschatz der geistlichen Institutionen verwahrt wurde; lediglich Sammelindulgenzen dienten gelegentlich der Präsentation. Die Publikation und Bewerbung von Ablässen dürfte daher vor allem durch mündliche Verkündung und durch Ablasssummarien erfolgt sein.
Durch die Nähe zu den Quellen und deren hilfswissenschaftliche Analyse gelingt es Söhnke Thalmann, zahlreiche neue Erkenntnisse bezüglich der Genese und Entwicklung des Ablasswesens im 13. und 14. Jahrhundert zu gewinnen. Nützlich wäre es allerdings gewesen, diese Erkenntnisse in Form kurzer, pointierter Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Abschnitte nochmals zu bündeln, zumal auf ein die Untersuchung erschließendes Register verzichtet wurde.
Stefan Petersen