Rezension über:

Herbert Molderings: Die nackte Wahrheit. Zum Spätwerk von Marcel Duchamp (= Edition Akzente), München: Carl Hanser Verlag 2012, 244 S., 48 s/w-Abb., ISBN 978-3-446-23872-5, EUR 18,90
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Rezension von:
Michael Lüthy
Kunsthistorisches Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Lüthy: Rezension von: Herbert Molderings: Die nackte Wahrheit. Zum Spätwerk von Marcel Duchamp, München: Carl Hanser Verlag 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12 [15.12.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/12/21369.html


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Herbert Molderings: Die nackte Wahrheit

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Wer bei Duchamp neues Terrain erschließen will, muss neben Expertise und ästhetischem Einfühlungsvermögen über Geduld verfügen, da Duchamp nicht nur komplexe Arbeiten hinterließ, sondern Spuren ebenso eifrig legte wie verwischte. Herbert Molderings verfügt über all dies reichlich, und so hat er in den vergangenen 30 Jahren das Wissen über den Künstler so beharrlich und erfolgreich erweitert wie kein zweiter im deutschsprachigen Raum. Seine jüngste Buchpublikation zu Duchamp wendet sich nun dessen Spätwerk zu. Der Band versammelt drei Aufsätze, die in dieser oder anderer Form bereits früher erschienen. [1]

Den Auftakt bildet ein Essay über die einzigartige Wirkungsgeschichte Duchamps, der von immer neuen Künstlergenerationen als Inspirator entdeckt wurde. Speziell konzentriert sich Molderings auf die postmoderne Wertschätzung Duchamps, die er darin begründet sieht, dass Duchamps lange Zeit solitäre ästhetische Überzeugungen "in den vergangenen drei Jahrzehnten zunehmend mit der ironischen und unmetaphysischen Richtung des zeitgenössischen Denkens konvergierten" (8f.). Streifzüge durch das Denken Feyerabends, Lyotards oder Rortys konturieren die Affinitäten zwischen deren und Duchamps skeptischer Haltung gegenüber den Ansprüchen absoluter Wahrheiten oder der Normativität des Wirklichen. Als Duchamp ab 1912 zu seinen radikal neuen künstlerischen Positionen fand, habe er nicht metaphysisch nach dem Wesen der Kunst gefragt, sondern "nach ihrer Konstruktion, ihrer Erfindung, das heißt nach den Voraussetzungen, Ideen und Paradigmen" (13). Der Künstler wird als Forscher beschrieben, dessen unablässige Recherche nach der Eigenart bildkünstlerischer Arbeit von der Unmöglichkeit befeuert wurde, zu letztgültigen Antworten zu kommen. Möglicherweise überdehnt Molderings aber Duchamps Relativismus, wenn er von der gänzlichen Austauschbarkeit von Kunstwerken und Gebrauchsgegenständen oder Wissenschaft und Kunst spricht, die dieser realisiert habe. Denn am Wert einer Kategorie zweifelte Duchamp nie: am Wert der Kunst wie auch der künstlerischen Lebensform als einer, die sich den Zumutungen der rationalisierten und ökonomisierten Moderne entschlägt. Duchamps Relativismus wird selbst relativiert durch das Festhalten an der wirkmächtigen, seit dem späten 18. Jahrhundert virulenten Idee der Autonomie der Kunst, als deren radikalster Fürsprecher im 20. Jahrhundert Duchamp erscheinen kann.

Der dritte Aufsatz zum "Rayon vert" - einer unscheinbaren Arbeit, die Duchamp 1947 im Rahmen der Pariser Ausstellung "Le Surréalisme en 1947" schuf - ist ein Musterbeispiel für Molderings Können, verstreute Hinweise, recherchierte Dokumente, geistesgeschichtliches Wissen und hermeneutischen Spürsinn so zu verbinden, dass ein Kosmos von Bezügen sichtbar wird. Die Arbeit - die Fotografie eines Meereshorizontes, die hinter einer kreisrunden Öffnung in der textilen Membran eines Ausstellungsraums angebracht war und durch deren Schlitzung in Horizonthöhe jeweils kurzzeitig der titelgebende grüne Lichtstrahl drang -, ging wohl nach Ausstellungsende verloren, im Katalog wurde sie nicht reproduziert, und nur wenige widersprüchliche Beschreibungen liegen vor. Molderings entdeckte vor 30 Jahren eine fotografische Abbildung, und der Text fasst nun die seither gemachten Funde in stupender Schlüssigkeit zusammen. Auf diese Weise wird eine Arbeit, deren rätselhafte Semantik wohl von Anfang an nur wenigen zugänglich war, nicht nur in Duchamps Werk eingebettet, sondern allererst dem Vergessen entrissen.

Der mittlere und längste Aufsatz schließlich widmet sich Duchamps noch immer provozierendem letzten Werk, der über 20 Jahre entstandenen und erst ein knappes Jahr nach Duchamps 1968 erfolgtem Tod im Philadelphia Museum of Art zugänglich gemachten Rauminstallation "Etant donnés: 1° la chute d'eau 2° le gaz d'éclairage". Dieses so faszinierende wie sperrige Werk geriet in den letzten Jahren in den Fokus der Duchamp-Forschung, 2009 entstand das genau gearbeitete, materialreiche Katalogbuch Michael Taylors, 2010 organisierte Stefan Banz eine große Konferenz zu derselben Arbeit, deren Vorträge im selben Jahr als Buch erschienen. [2] Die vielfältigen Detailinformationen über "Etant donnés" und die Spannbreite der Deutungsansätze werden von Molderings pointiert zusammengefasst und in einen flüssigen Interpretationsverlauf gebracht, der erstaunlich viele der unterschiedlichen Werkaspekte integriert. [3] Einerseits wird es in die Kontinuität des Œuvres gerückt, indem es als Fortführung der Ideen ausgewiesen wird, aus denen bereits das "Große Glas" ("Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar") zwischen 1915 und 1923 entstand. Andererseits sucht Molderings Erklärungen für das unerwartete Erscheinungsbild der Arbeit nicht als konzeptualistisch vergeistigtes Artefakt, sondern als ein an die Schaulust appellierendes Diorama. Molderings deutet es als Apparatur, in der das Sehen reflexiv auf sich selbst zurückbezogen wird, das "Sehen betrachtet" werden kann (58). Zu diesem Zweck baute Duchamp ein Raumgefüge, das ebenso Aspekte eines "perspektivischen Demonstrationsraums" (59) aufweise wie solche einer fotografischen Apparatur. Die Darlegung, wie diese beiden Aspekte in "Etant donnés" zusammenspielen, gehört zu den Höhepunkten des Aufsatzes.

Der zweite Teil der Studie erörtert die verwickelte Entstehungsgeschichte der Arbeit, wobei dem Wandel vom ursprünglich geplanten reliefierten Wandbild einer stehenden Frau zum raumgreifenden Diorama einer in eine Landschaft gebetteten Liegenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Begründung dafür fällt etwas mager aus: Molderings sieht ihn als Ergebnis von "Todesgedanken, Enttäuschung und Bitternis" (114) infolge der Trennung von seiner Geliebten, deren Körper die Figur von "Etant donnés" abgeformt ist, sowie des Todes mehrerer enger Freunde. Zu wenig berücksichtigt wird, dass sich dadurch nicht nur die Anmutung der weiblichen Figur, sondern die ästhetische Konzeption der Arbeit insgesamt grundlegend änderte. Nicht zuletzt folgte dem Konzeptionswechsel vom Reliefbild zum Diorama die Entscheidung, den Raum durch eine Wand mit eingelassener Holztüre zu verschließen und dem Betrachter lediglich den prekären visuellen Zugang durch zwei Gucklöcher zu gewähren - wodurch die Gegebenheitsweise des Sichtbaren und die Situation des Sehens, die laut Molderings für das Verständnis der Arbeit zentral sind, völlig neu bestimmt werden.

Am Schluss der Lektüre wünschte man sich ein Nachwort, das die drei unterschiedlichen Aufsätze aufeinander bezöge und zugleich den Untertitel des Buches erörterte. Denn es ist durchaus strittig, ob Duchamps Œuvre ein Spätwerk aufweist, und wenn ja, wodurch es konturiert wird. Molderings scheint sogar für das Gegenteil zu plädieren, wenn er schreibt, Duchamp habe sein Leben lang nur an einem einzigen Werk gearbeitet, das aus zwei großen Teilen bestehe, dem "Großen Glas" und "Etant donnés" (128). Das Schwanken zwischen der Absetzung eines Spätwerks und der Integration des Œuvres zu einem einzigen Werk tangiert vor allem die Deutung von "Etant donnés" [4], die offen lässt, ob dieses Werk die Fortsetzung des "Großen Glases" mit anderen Mitteln sei oder ob der "späte" Duchamp mit jener Mischung aus Installation und Environment nicht vielmehr in eine neue, in seinem Œuvre bislang nicht vorfindliche erfahrungsästhetische Dimensionen vorstieß, deren Vermessung noch aussteht.


Anmerkungen:

[1] Die "Editorische Notiz" vermerkt einige der Vor-Publikationen nicht. So sind die beiden großen Werkstudien zu "Etant donnés" und zum "Rayon vert" nicht erst hier aus Vorträgen in Druckfassungen überführt worden. Der Aufsatz zu "Etant donnés" erschien in kürzerer Version in "Etant donné Marcel Duchamp", Nr. 3 (Paris 2001), derjenige zum "Rayon vert" auf Französisch in "Retour d'y voir", Nr. 3-4 (Genf 2010) und in einer kürzeren englischen Fassung in dem von Stefan Banz herausgegebenen Sammelband "Marcel Duchamp and the Forestay Waterfall" (Zürich 2010).

[2] Michael R. Taylor: Marcel Duchamp: Etant donnés, Philadelphia Museum of Art 2009; Stefan Banz (Hg.) (wie Anm. 1).

[3] Davon auszunehmen ist der von Banz herausgegebene Sammelband, dessen Erträge kaum berücksichtigt sind.

[4] Fast nur in diesem Aufsatz finden sich auch einige Fehler und Verschreiber, die ein Lektorat hätte beseitigen können, beispielsweise statt "Le Forestay" als jener Wasserfall in der Nähe des Genfersees, der im Hintergrund von "Etant donnés" auftritt, "Le Forestier", 1913-1923 als Entstehungszeit des "Großen Glases" oder "Gunter von Hagen" statt "Hagens".

Michael Lüthy