Verena von Wiczlinski: Im Zeichen der Weltwirtschaft. Das Frankfurter Privatbankhaus Gebr. Bethmann in der Zeit des deutschen Kaiserreichs 1870-1914 (= Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung; Bd. 23), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, 410 S., ISBN 978-3-515-09786-4, EUR 56,00
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Verena von Wiczlinski beschäftigt sich in ihrer in überarbeiteter Fassung vorgelegten Würzburger Dissertation aus dem Jahre 2007 am Beispiel des traditionsreichen Bankhauses Gebr. Bethmann in Frankfurt/M. mit der Rolle der deutschen Privatbankiers beim Kapitalexport im Kaiserreich. Damit erweitert die Autorin den Kenntnisstand zur deutschen und internationalen Finanz- und Bankgeschichte jener Jahrzehnte in einem wichtigen, bisher von der Forschung teilweise vernachlässigten Bereich.
Der umfangreiche Band gliedert sich in drei Haupteile: Nachdem von Wiczlinski das Thema in der Forschungslandschaft verortet hat und zentrale Fragestellungen sowie die benutzten Quellen skizziert hat (9-20), folgt ein Abschnitt zur Geschichte des Bankhauses bis 1870 "vor dem Hintergrund der allgemeinen Bankgeschichte" (21-41) - leider fehlt ein Gegenstück zur Zeit zwischen 1914 bis 1976, als die Übernahme durch die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank erfolgte (338, Anm. 70) -, sowie ein weiterer Abschnitt zur Bedeutung des Kreditinstituts "innerhalb der Bankenlandschaft im Kaiserreich" einschließlich Ausführungen zum Inlandsgeschäft (43-61).
Das 4. Kapitel (63-315) bildet den Schwerpunkt der Monographie mit der Analyse der Auslandstätigkeit von Gebr. Bethmann. Nach kürzeren Ausführungen unter den Überschriften "Kapitalexport und Imperialismus" (63) sowie "Interessensphären und Träger des deutschen Kapitalexports" (72) werden die einzelnen Regionen der Erde und die jeweiligen Engagements der Bank vor dem Hintergrund der spezifischen politischen und ökonomischen, speziell finanziellen Entwicklungen in den Empfängerstaaten geradezu enzyklopädisch abgehandelt. Dabei typisiert die Autorin ein riesiges Material, das von einer beeindruckenden Quellen- und Literaturarbeit zeugt, hinsichtlich der Geschäftspraktiken sowie den politischen Rahmenbedingungen und der Haltung der Reichsleitung zu den einzelnen Projekten. Die europäischen Gebiete werden somit unterschieden in vom Wesen her unpolitische Anlagen in Norden und Westen im Gegensatz zu den hochpolitischen Balkan-Projekten (89-128). Beim Kapitalexport nach Fernost sieht von Wiczlinski ein Spektrum von der Gewährung weitgehend traditioneller Staatsanleihen an Japan bis hin zu einem sog. multinationalen Eisenbahnimperialismus in China, das seine politische Unabhängigkeit verlor (131-154). In Afrika bildeten nicht die deutschen Kolonien sondern Südafrika das Hauptanlagegebiet, wobei die Geschäfte der Frankfurter durch den Burenkrieg stark beeinflusst wurden. Unter Anführung zahlreicher Aktenzitate wird herausgearbeitet, dass das Bankhaus durchaus unabhängig und teilweise direkt gegen die Intentionen der Reichsleitung agierte (154-186), ein Befund, der sich auch für andere Regionen ergab. Das umfangreiche Geschäft mit Lateinamerika wird ebenfalls ausführlich dargestellt, wobei vor allem der Unterschied zu den Verhältnissen in China betont wird. Danach war die Kreditgewährung angesichts größerer politischer Selbständigkeit und Stabilität der Staaten in Mittel- und Südamerika, auch wenn diese mehrfach mit Bankrotten zu kämpfen hatten, die Verluste der Geldgeber zur Folge hatten, mit geringerer Einflussnahme seitens der Gläubiger als in China verbunden. Die umfangreichsten Ausführungen erfolgen schließlich zur Türkei (241-315), in der der Kapitalexport vor allem zu Gunsten des Eisenbahnbaus und der Anleihegewährung "vor dem Hintergrund politischer Einflussnahme" (241) erfolgte.
Unter der Überschrift "Ergebnisse" fasst von Wiczlinski die Analysen zusammen (317-339). Sie kommt erstens zu interessanten Aussagen zur Charakteristik der (deutschen) Privatbankiers, ihrer Mentalität und zur Bedeutung von Strategien und Mentalitäten, womit ein Beitrag zum Bild des Bürgertums und vor allem der Hochfinanz geliefert wird. Zweitens charakterisiert die Autorin die schwächere Stellung des Frankfurter Bankhauses gegenüber den großen Aktienbanken sowie den größeren Privatbankhäusern sowie das erfolgreiche Bemühen, besonders im Bereich des Staatsanleihen mit Hilfe eines guten Rufs und der Nutzung exzellenter, teilweise familiärer oder traditioneller Kontakte zu Geldhäusern in Paris und London sowie weiter informeller Netzwerke das eigene Gewicht zu erhöhen. Gerade die internationalen Beziehungen und der Spürsinn für ertragreiche Engagements ließen Gebr. Bethmann - gleich anderen deutschen Bankhäusern - dabei verschiedentlich temporäre Allianzen mit ausländischen Partnern eingehen, auch wenn dies nicht den politischen Intentionen der von der Idee der deutschen Weltgeltung zunehmend gefangen genommenen Reichsleitung entsprach oder sogar mit ihr kollidierte. Das ging soweit, dass einzelne Frankfurter Engagements sowohl anderen Geschäftspartnern aber auch der Regierung gegenüber geheim gehalten wurden. Aus diesem Konflikt von "Globalisierung vs. Nationalisierung" (318) leitet von Wiczlinski als Kernthese ab, dass "nicht nationale, sondern wirtschaftliche Aspekte" darüber "entschieden [...], wo Kapital placiert wurde" (321). Da sich Gläubiger und Schuldner in "komplexen Verflechtungen und Abhängigkeiten" befanden und öfter zur Sicherung bereits investierten Kapitals neues nachgeschossen werden musste, ergebe sich "ein vielschichtiges Geflecht von Interdependenzen, das eine reduktionistische Kennzeichnung der Beziehungen zwischen kapitalexportierenden und kapitalimportierenden Ländern als (wirtschafts-)imperialistisch unzureichend erscheinen läßt" (322).
Auch wenn nun der Autorin vom Grundsatz her zuzustimmen ist, dass Imperialismus und imperialistische Herrschaft nicht mit einem einfachen Antagonismus zwischen kapitalexportierenden und kapitalimportierenden Mächten zu beschreiben sind, muss doch die Frage zu stellen sein, welche Seite in jenem "Geflecht von Interdependenzen" das Übergewicht hatte, tatsächlich Herrschaft ausübte bzw. ausüben ließ. Natürlich ist, wie von Wiczlinski zutreffend feststellt, "die antagonistische Sichtweise der europäischen Staatenbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg primär diplomatiegeschichtlich bedingt", was den "wahrnehmbaren Willen der Wirtschaft zur Kooperation weitgehend ausklammert". Es bleibt aber fraglich, ob letzterer, wie die Autorin schreibt, "durchgängig" (326) bestand. Daraus gar abzuleiten: "Die Herangehensweisen der sach- und gewinnorientierten Bankiers und jene der von ideologisch-imperialistischen Zwängen bestimmten Politiker unterschieden sich [...] diametral" (327), geht zu weit, denn nun wird gewissermaßen der bereits beschriebene Antagonismus eines vereinfachten Imperialismusbildes durch den ebenfalls simplifizierenden Dualismus zwischen Wirtschaft und Politik ersetzt.
Dieser Einspruch gegen die Grundthese der Autorin gewinnt nicht zuletzt auch dadurch an Gewicht, als die Quellenbasis des Buches unausgewogen ist: Zwar wurde ausführlich das umfangreiche Archiv des Bankhauses benutzt, aber es muss sehr verwundern, wenn einschlägige Akten der Reichsleitung, sofern sie überhaupt Erwähnung finden, allein aus der Sekundärliteratur zitiert und selbst von den verschiedenen amtlichen Aktenpublikationen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges nur die Deutschlands und Großbritanniens spärlich herangezogen werden. Gerade weil zum Beispiel das Register der Großen Politik der Europäischen Kabinette... keinen Eintrag zu dem Frankfurter Bankhaus oder seinen Teilhabern hat, wäre es doch sehr Erkenntnis fördernd gewesen, an Hand der Überlieferung des Auswärtigen Amtes zu überprüfen, ob und wenn ja wie die Engagements des Kreditinstituts beurteilt wurden, zumal, wenn sie nicht mit den politischen Intentionen in Einklang standen. Selbst ein Negativbefund hätte Aussagewert. Natürlich ist dem Rezensenten bewusst, dass dies einen großen Suchaufwand bedeutet und die Fertigstellung der Monographie verzögert hätte, außer, die Autorin hätte den enzyklopädischen Anspruch aufgegeben und sich auf einige Länder bzw. Projekte beschränkt. Ebenso mutet es merkwürdig an, dass zeitgenössische Presseartikel selbst gut zugänglicher Organe jeweils nur nach Ausschnitten aus den Akten zitiert werden, so dass die Liste von 36 Periodika (343 f.) zu viel verspricht. Die konzeptionelle Bindung der Monographie an das Bankarchiv führt beispielsweise auch dazu, dass im Zusammenhang mit einer serbischen Anleihe zwar die Mitwirkung der Frankfurter Bankiers bei der Erarbeitung einer Pressemitteilung beschrieben (101), jedoch keine Auskunft darüber gegeben wird, ob und wenn ja welche Blätter diese Meldung abdruckten bzw. kommentierten. Die Stärke des Buches, die detaillierte Auswertung des einen Bankarchivs, erweist sich so gesehen zugleich als Faktor, der manchen Thesen der Autorin die formulierte Allgemeingültigkeit dann doch stark begrenzt. Die Abhängigkeit von der Hauptquelle geht schließlich so weit, dass in einigen Fällen allein aus dem Abbruch von Akten zu einzelnen finanziellen Engagements auf deren gezielte Auflösung geschlussfolgert wird (z.B. 182) - was ein wahrlich zu großes Vertrauen in eine von Zufällen und widrigen Zeitläuften unbeeinflusstes Dokumentenmanagement darstellt. Wenn nun gar im Fall des Bethmann'schen Aktienbesitzes an der französischen, in Rußland wirkenden Compagnie des Charbonnages d'Ekatherine aus dem Ende der Geschäftsaufzeichnungen im Jahre 1916 (!) geschlussfolgert wird, dass ungeachtet des Krieges "die Frankfurter ihre Aktien gleichwohl realisierten" (127), so ist dies ein kühner Schluss unter den Bedingungen des zwischen Deutschland, Frankreich und dem Zarenreich geführten Wirtschaftskrieges, der mit Blockaden und strengster Postzensur verbunden war und von Sequestrierungen bis hin zu Enteignungen reichte.
Reinhold Zilch