Sofia Meyer: Der heilige Vinzenz von Zaragoza. Studien zur Präsenz eines Märtyrers zwischen Spätantike und Hochmittelalter (= Beiträge zur Hagiographie; Bd. 10), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 383 S., ISBN 978-3-515-09068-1, EUR 64,00
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Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Hagiographie hat in den letzten Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht. Hagiographische Schriften gelten nicht länger als Wundergeschichten ohne historischen Wert oder als Beleg für die Heiligkeit der Märtyrer und Bekenner, sondern als eigenständige Quellen zur Erforschung der Frömmigkeitsgeschichte. Dabei spielte in den letzten Jahren vor allem die Frage nach der Dynamik der Heiligenverehrung eine Rolle, welche die Forschung vor allem unter dem Schlagwort réécriture, also der Überarbeitung von Texten, untersuchte. Daneben fand aber auch die Analyse der Memorialfunktion des Kultes und damit die Vergegenwärtigung und Aktualisierung des Heiligen in der jeweiligen Zeit vermehrt Interesse. An solche Forschungsfragen knüpft die nun gedruckt vorliegende Dissertation von Sofia Meyer explizit an, da sie die Entstehung, Funktion und Verbreitung des Kultes des heiligen Vinzenz bis zu seiner Blütezeit im hochmittelalterlichen Portugal thematisiert. Die Auseinandersetzung mit Vinzenz ist für die hagiographische Forschung fundamental, da er im Mittelalter als einer der bedeutendsten Heiligen galt und sich an ihm gleichzeitig zeigen lässt, wie ein Lokalheiliger zu einem Heiligen der Universalkirche aufsteigen konnte.
Um den stets im Wandel begriffenen Vinzenz-Bildern und -Funktionen auf die Spur zu kommen, zieht Meyer ein breites Quellenspektrum heran. Sie wertet neben den verschiedenen hagiographischen Quellen u. a. auch Patrozinien, Epithaphien, Briefe, liturgische Quellen, Martyrologien und Erwähnungen in der Historiographie aus. Dabei setzt sie die unterschiedlichen Aspekte nach grundlegenden Studien zum den heiligen Vinzenz betreffenden hagiographischen Quellenkorpus zum ersten Mal in Verbindung zueinander und beleuchtet zudem noch nicht erschlossenes Quellenmaterial erstmals. Ihre Arbeit ist chronologisch in drei große Abschnitte geteilt, innerhalb derer sie in Unterkapiteln die jeweiligen regionalen Verbreitungsstrukturen untersucht. Die ersten Kapitel widmen sich der Zeit vom Beginn der Verehrung Vinzenz' im 4. Jahrhundert bis zu seiner Translation nach Castres 863, wobei hier die iberische Halbinsel, das Frankenreich, Italien sowie Randgebiete der Kultverbreitung betrachtet werden. Mit der Translation nach Castres sind grundlegende Entwicklungen abgeschlossen, weshalb sie den Kult von der späten Karolingerzeit bis zur Translation nach Portugal 1173 nur kurz behandelt, um dann in einem letzten Kapitel wieder ausführlich das erneute Interesse in Portugal zu analysieren.
Die beiden frühsten Quellen zum heiligen Vinzenz sind die um 405 vom iberischer Dichter Prudentius verfassten Märtyrerhymnen im so genannten "Peristephanon". Hier ist vor allem das Carmen V zu erwähnen, das Vinzenz vollständig gewidmet ist. Grundlegende Züge der Erzählung sind nach Meyer der epische Charakter des Martyriums, die Funktion des Heiligen als Interzessor und theologische Aussagen zur Trinität. Nur kurze Zeit später formulierte Augustinus einige Sermones, die sich mit Vinzenz beschäftigen und ihn vor allem als Vorbild im Kampf gegen die Sünde stilisieren. Meyer glaubt, dass Prudentius' wie Augustinus' Texte auf eine gemeinsame Vorlage zurückgeführt werden können, die selbst aber nicht mehr zu rekonstruieren ist.
Wohl im 6. Jahrhundert entstand dann die Passio BHL 8631, die Meyer als älteste Fassung nachweisen kann, indem sie die Rezeption des Textes sehr genau verfolgt. Neben diese Fassung treten viele andere Texte, die auf eine konstante Auseinandersetzung mit dem Heiligen und damit auf eine ständige Aktualisierung des Kultes verweisen. Meyer zeigt, dass dem Prozess der réécriture stärker als bisher angenommen eine Kenntnis und Verwendung der drei Quellen Passio, Peristephanon V und der augustinischen Predigten zugrunde gelegen haben muss. Auch einen inhaltlichen Wandel macht sie aus: Dominieren im Frühmittelalter noch didaktisch-theologische und polemische Elemente, treten im Hoch- und Spätmittelalter moralische Wertungen und Exempla in den Vordergrund.
Im zweiten Teil sichtet Meyer dann die Belege für die Verbreitung der Vinzenzverehrung. Zuerst wendet sie sich der iberischen Halbinsel zu, wo der heilige Vinzenz schon seit der Westgotenzeit verehrt wurde. Mit der muslimischen Eroberung 711 brach sein Kult auch im Süden nicht überall ab, dennoch lässt sich eine Süd-Nord Verlagerung feststellen. Im Frankenreich spielt in erster Linie die Förderung der merowingischen Könige bei der Verbreitung des Kultes über die ursprüngliche Verehrung vor allem im Süden und Osten eine Rolle. Im Ostfrankenreich gab es entgegen bisheriger Annahmen wohl keine Verehrung; die Patrozinien sind alle einem homonymen römischen Märtyrer zuzuschreiben. Auch für Italien ergibt sich kein homogenes Bild. So kann Meyer im stadtrömischen Bereich bis in das 9. Jahrhundert keine Verehrung feststellen, die ältesten Patrozinien stammen aus dem 5./6. Jahrhundert in Ober- und Mittelitalien. In Nordafrika, England und Irland finden sich nur spärliche Spuren der Verehrung, dagegen ist der heilige Vinzenz einer der bedeutendsten westlichen Heiligen in Byzanz. Als allgemeine Tendenz stellt Meyer fest, dass es seit dem 9. Jahrhundert zwar eine wachsende Zahl von Vinzenz-Patrozinien gab, neue Impulse für den Kult jedoch ausblieben.
Der letzte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem Kult nach der Rückeroberung Portugals 1147, als in S. Vincente de Fora die Verehrung des heiligen Vinzenz einsetzte. Im Zuge der Überführung der Reliquien in die Kathedrale von Lissabon 1173 entstanden zwei Schriften: der wirkmächtige Bericht des Meste Estêvão und ein Text, dessen Herkunft Meyer in Flandern verortet, der jedoch kaum Verbreitung erfuhr. Die Förderung des Vinzenz-Kultes durch Alfonso Henrique, den ersten König Portugals, und seine Nachfolger belegt nach Meyer dessen identifikationsstiftende Rolle. Gezeigt wird, dass mit der Translation eine Phase der Festigung und Expansion der Verehrung des heiligen Vinzenz im 13. Jahrhundert begann und sein Kult wohl erst im 16. Jahrhundert im Schwinden begriffen war.
Meyers Arbeit besticht vor allem durch die vielen Neubewertungen und Einzelbeobachtungen, die im Rahmen einer Rezension nicht detailliert vorgestellt werden können, weshalb hier auch nur eine systematische Übersicht der Ergebnisse erfolgte. Meyer bietet einen großen Überblick, der durch die chronologische Ordnung und die geographische Strukturierung des Materials die Dynamik der Vinzenzverehrung erhellt und nachvollziehbar macht. In geringerem Maße gelingt es ihr die Motive für die jeweilige Adaption oder die Funktionen des Kultes auszuleuchten. Das mag an der spröden Quellengrundlage liegen, allerdings hätte es auch eines stärker funktionalistisch geprägten Zugriffes bedurft, der in manchen Fällen wohl zu einer akzentuierteren Systematisierung der Befunde beigetragen hätte.
Meyer hat die Vielgestaltigkeit der materiellen wie ideellen Präsenz des heiligen Vinzenz über mehrere Jahrhunderte akribisch und mit großer Quellenkenntnis herausgearbeitet und damit neue Perspektiven auf seinen Kult eröffnet, die sicherlich zu weiteren Einzelstudien anregen werden.
Miriam Czock