Thomas Dessislava: Gegen den Filmriss. Chris Markers Essayfilme/Porträtfilme, Marburg: Tectum 2009, 169 S., ISBN 978-3-8288-2031-9, EUR 24,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Barbara Filser: Chris Marker und die Ungewissheit der Bilder, München: Wilhelm Fink 2010, 515 S., ISBN 978-3-7705-4883-5, EUR 68,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Anna Grosskopf: Die Arbeit des Künstlers in der Karikatur. Eine Diskursgeschichte künstlerischer Techniken in der Moderne, Bielefeld: transcript 2016
Jennifer Raab: Frederic Church. The Art and Science of Detail, New Haven / London: Yale University Press 2015
Katja Hoffmann: Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11, Bielefeld: transcript 2013
Als "The best-known author of unkown movies" stellte sich Chris Marker 2007 augenzwinkernd im Vorspann seines Youtube-Kurzfilms Leila Attacks vor (http://www.youtube.com/watch?v=iParBp8cS0w). De facto erfreut sich der publikumsscheue Schriftsteller, Fotograf, Comiczeichner und Filmemacher bei Insidern inzwischen einer großen Popularität. Die meisten dürften von seinen ebenso umfangreichen wie mannigfaltigen Arbeiten jedoch nur seinen Fotofilm La Jetée (1962) und seinen Essayfilm Sans Soleil (1982) kennen. Deren medientheoretische Implikationen haben für eine breite wissenschaftliche Resonanz gesorgt. Nach einem Höhepunkt in den 1990er-Jahren ist der Elan der deutschen Marker-Forschung zwischenzeitlich abgeklungen. Währenddessen setzten sich etliche Publikationen im romanischen Sprachraum sowie von 2005 bis 2008 gleich drei englische Werkmonografien mit dem Œuvre des Franzosen auseinander, der am 29. Juli 2012 an seinem 91. Geburtstag gestorben ist.
Mit zwei filmanalytisch ausgerichteten monografischen Studien stellen Dessislava Thomas (2009) und Barbara Filser (2010) ein Ende der deutschen 'Sendepause' in Aussicht. Das ist auch methodisch erfreulich, da die Möglichkeiten der Filmanalyse gegenwärtig unterschätzt werden. Gerade weil Markes komplexe und irritationsreiche Werke bereits eine Inhaltsangabe in ein Abenteuer verwandeln können, ist eine fundierte analytische Rückversicherung ihnen gegenüber eine unabdingbare Diskussionsgrundlage. Diese assoziationsreichen Filme sperren sich nämlich entschieden gegen generalisierende Vereinnahmungsversuche, indem sie sowohl inhaltlich als auch strukturell für Übersehenes, Vergessenes oder Verdrängtes sensibilisieren, das sich unzweideutigen Einordnungen entzieht. Die darin vermittelte skeptisch-enthierarchisierende Haltung wurde mit dem Etikett Essayfilm versehen, und Marker gilt als prototypischer Vertreter dieser Gattung.
Gegen den Filmriss. Chris Markers Essayfilme/Porträtfilme basiert auf der Abschlussarbeit von Dessislava Thomas an der Universität der Künste in Berlin und konzentriert sich auf drei weniger bekannte Filmporträts, die Marker von seinen Regiekollegen Akira Kurosawa (A.K., 1985), Alexander Medwedkin (Le tombeau d'Alexandre, 1992) und Andrei Tarkowski (Une journée d'Andrei Arsenevitch, 1999) gezeichnet hat. Neben Geschichte/Politik und Reisen sei das Porträt eine von drei "Formen", in denen Marker sein Hauptthema der Erinnerung realisiert habe (13). Primär fragt die Autorin jedoch nach den Gestaltungsspezifika von Essayfilm-Porträts bei Marker, das heißt die Kategorie des Porträtfilms spielt eine eher untergeordnete Rolle, da sie, so die Begründung, keine dokumentarische Gattung konstituiere und kaum Literatur dazu existiere (13). Folglich diskutiert Thomas in den ersten drei Kapiteln Themen und Stilmittel des Essayfilms, um daraus im vierten Abschnitt Leitfragen für deren Analyse abzuleiten. In den Kapiteln 5 bis 7 lenkt sie das Augenmerk auf Inhalt und Stil der genannten Filme und fasst die Ergebnisse abschließend ausführlich zusammen.
Jenseits der Argumentation ist die außerordentliche Fehlerlastigkeit der Publikation zu bemängeln. Zu zahlreichen Interpunktionsfehlern gesellen sich grammatikalische Unstimmigkeiten und vergessene Satzteile (13, 23, 90, 111). Auch umgangssprachliche Formulierungen und übertriebenes Pathos steigern den Lesegenuss nicht unbedingt (11, 153, 158), ganz zu schweigen von vermeidbaren Sachfehlern (37, 112f.).
Zahlreiche Zitate und Fußnoten beweisen, dass sich Thomas mit der konsultierten Literatur intensiv befasst hat, doch die jüngsten Veröffentlichungen stammen erstaunlicherweise von 2003!? Ausgehend von der Dissertation Christina Scherers, bricht Thomas die Eigenschaften des Essayfilms - etwas überspitzt formuliert - auf kommentierte Schlagworte herunter (21-59) und hakt diese in den Kapiteln über die Filme regelrecht ab. Diese Abhängigkeit von bestehenden Positionen hindert sie leider an der Entwicklung eigener innovativer Akzente. Zudem suggeriert ihr 'Merkmalskatalog' eine klare Festlegbarkeit, der sich diese Form gerade verweigern will. [1]
Jedes Analysekapitel folgt dem gleichen Schema, zunächst den Inhalt und dann denn Stil des jeweiligen Films anhand eines festen Fragenkataloges zu beschreiben. Die Engmaschigkeit des wenig flexiblen Analyserasters sorgt für Wiederholungen und steht dem Aufbau einer kontinuierlichen Argumentation im Weg, sodass komplexe Zusammenhänge nur bedingt erfasst werden. Die Autorin hat damit bedauerlicherweise die Chance vergeben, weniger bekannte Marker-Filme ins Zentrum der Diskussion zu holen und mit neuen Erkenntnissen über eine eventuelle Sonderstellung der Kombination von Porträt- und Essayfilm aufzuwarten. Für die Richtigkeit ihres Denkansatzes spricht übrigens Timothy Corrigans unlängst erfolgter Einordnungsversuch des Porträtfilms als wichtige Untergattung des Essayfilms, und zwar als einen von fünf dominanten "essayistic modes". [2]
Gelungen ist demgegenüber Barbara Filsers ambitionierte, 515 Seiten umfassende Dissertation, die 2007 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe angenommen und 2010, auf den aktuellen Forschungsstand gebracht, publiziert wurde. Sie dürfte künftig nicht zuletzt wegen ihrer Informationsfülle als vielfach konsultiertes Referenzwerk dienen. Wenn nachfolgend Einwände erhoben werden, so ist dies insbesondere der Beschaffenheit der Marker-Filme geschuldet, die einem Interpreten spezifische methodische Zwickmühlen geradezu aufnötigen.
Bereits der Titel Chris Marker und die Ungewissheit der Bilder lässt aufhorchen, verspricht er doch die längst überfällige Fokussierung des 'Bildwissenschaftlers' Marker, der seit den 1950er-Jahren in unterschiedlichen Medien eine "[beharrliche] Analytik des Bildes" (465) betrieben hat, zuletzt im Internet und mit den verfremdeten Fotografien seiner Bildbände Staring Back (2007) und Passengers (2011). Insbesondere aus der Frage nach den aufklärerischen und täuschenden Eigenschaften von Bildern schöpft Marker ein Spannungspotenzial für seine kritischen Bilderkundungen. Mit Störeffekten setzt er den Eindruck medialer Transparenz außer Kraft, um die Materialität und ergo die Bildlichkeit von Bildern zu exponieren. Genau dieser Aspekt fungiert als Ausgangspunkt für Filsers treffende Hauptthese: "In Markers Kino der Bilder als Bilder, so die hier verfolgte Argumentation, manifestiert sich eine Ungewissheit, die sich generell als Ungewissheit zwischen Dokumentarität und Fiktionalität begreifen lässt - Dokumentarität und Fiktionalität als koexistierende Qualitäten oder Effekte des Filmbildes, die in den hier behandelten Filmen jeweils spezifisch ausdifferenziert erscheinen und dabei reflektiert und in ihrer Koexistenz ausgelotet werden. Im Kontext der Fragen nach Geschichte, Gedächtnis, Erinnern und der Rolle medialer Repräsentation, die Markers Schaffen durchziehen, ist die beharrliche Arbeit an den Bildern somit immer auch die einer bildtheoretischen Auseinandersetzung mit dem Filmbild [...]" (20).
In vier äußerst ausführlichen, leider relativ sparsam bebilderten Analysen konzentriert sich Filser auf bekanntere Marker-Filme, deren Auswahl sie damit begründet, dass in jedem von ihnen filmische Bildlichkeit durch die Referenz auf ein bevorzugtes Medium reflektiert werde: in La Jetée sei es die Fotografie, in Le Fond de l'air est rouge (1977) der Film, in Sans Soleil Video und in Level Five (1996) der Computer (u.a. 456).
Diesem Hauptteil geht eine 145 Seiten umfassende Einführung voraus, in der Filser einerseits ebenso präzise wie erhellend die Diskurse nachzeichnet, durch die der Essayfilm aus dem Unbehagen am dokumentarischen Film entstanden ist (Kap. 1 und 2). Andererseits erörtert sie mit Gilles Deleuzes Konzept des audio-visuellen Bildes ausführlich das Verhältnis von Bild und Ton im Film, um zu klären, mit welchen Mitteln das filmische Bild im Essayfilm vom Ton emanzipiert und um seiner selbst willen untersuchbar gemacht wird (Kap. 3). Diese Weichenstellung des Prologes sorgt für eine Betrachtung von Markers Filmen unter dem Vorzeichen des Essayistischen, was im Fall von La Jetée nicht so eindeutig ist. Sie geht zwar häufig auf weitere Filme des Regisseurs ein, doch eine noch eingehendere Betrachtung von Lettre de Sibérie (1958) hätte das Konzept der Arbeit gegebenenfalls besser abgerundet, weil sich Einleitungs- und Analyseteil eleganter ineinander überführen ließen. In seinem bahnbrechenden ersten Essayfilm entflammt Marker nämlich ein ganzes Feuerwerk disparater Gestaltungsmöglichkeiten, bis hin zu Monty-Python-artigen Animationssequenzen avant la lettre, um Klischeebildungstendenzen in Dokumentarfilmen geradezu programmatisch einer radikalen Kritik zu unterziehen. Konsequenterweise avancierte Lettre de Sibérie zu einem maßgeblichen theoriegeschichtlichen Impulsgeber für die Essayfilm-Debatte.
Filsers Diskussion mündet - ähnlich wie bei Thomas - in einem 'Merkmalskatalog' des Essayfilms (91-105). Allerdings verfährt sie zusammenhangsorientierter und offener. Als Leitlinie fungieren die Besonderheiten der Filme, deren unterschiedliche Bedeutungsschichten sukzessive vorgestellt werden. So entgeht sie der Gefahr, ein unpassendes Schubladenkorsett auf das Werk des notorischen Systematisierungsverweigerers Marker zu applizieren. Der ausführliche und exkursreiche Fußnotenapparat dokumentiert Filsers vorzügliche Recherchenarbeit. Deren aufmerksame Lektüre empfiehlt sich, weil die eine oder andere, zum Teil sogar analyserelevante Ausführung den Haupttext flankiert und dort sogar effektiver platziert wäre (177, 194-195).
Die Analysekapitel sind in hohem Maße informativ und anregend, erschließen sie doch in angemessener Weise die Vielschichtigkeit und Vielfalt dieser vier Filme sowie ihre enge Verflechtung mit dem Gesamtwerk Markers. Leider entgeht auch Barbara Filser nicht ganz einem Dilemma, dem Marker sein Publikum bewusst aussetzt: Bisweilen gerät der rote Faden aus dem Blickfeld und manche scharfsinnige Pointe droht infolgedessen unterzugehen, ein typisches Symptom im Umgang mit Markers Œuvre. Mit der schieren Materialfülle sowie mit situativ aufscheinenden, oft apodiktisch vorgetragenen und einander bisweilen widersprechenden Theoriepartikeln verführt der Regisseur nur allzu leicht dazu, dass man sich entweder durch die deskriptive Aneinanderreihung von Details verzettelt - wie Dessislava Thomas - oder beim 'Fluchtversuch' in theoretische Sphären reduktionistisch am Untersuchungsgegenstand vorbeischreibt. Filser hat einen Mittelweg eingeschlagen, auf dem sie einigermaßen reibungslos durch dieses unablässige Trommelfeuer von dicht vernetzten 'Ablenkungsmanövern' navigieren kann, das auf Verunsicherung abzielt und wissenschaftliche Systematisierungsversuche nahezu unmöglich macht. Vielleicht hätte eine etwas abgespeckte, stärker exemplarische Vorgehensweise geholfen, um ein noch griffigeres Argumentationsprofil zu erzielen. Zugegebenermaßen fördern Markers enthierarchisierende und auf Prozesshaftigkeit ausgerichtete Reizüberflutungsstrategien nicht unbedingt den 'Mut zur Lücke', da sie ständig das Gefühl vermitteln, Wesentliches zu verpassen.
Der metakritische Theorieskeptiker Marker, der um eine möglichst unabhängige Position bemüht ist, tendiert Filser bisweilen zu entgleiten. Zum Vergleich sei auf Sarah Coopers Monografie von 2008 verwiesen, in der die Fototheorien André Bazins und Roland Barthes' herangezogen werden, um zu zeigen, inwiefern Marker einer eigenständigen Bildauffassung folgt. [3] Cooper führt ihren Ansatz nicht schlüssig zu Ende, gesteht dem Filmemacher aber eine intellektuelle Unabhängigkeit zu, die ihn nicht zum Erfüllungsgehilfen vorgefertigter Theorieschubladen degradiert. Derartiges gelingt, wenn Filser z.B. Markers Dekonstruktionen 'offizieller' Geschichtsdarstellungen in Level 5 würdigt. Fraglich ist gleichwohl, ob der großzügige Rekurs auf Gewährsleute wie Gilles Deleuze, Roland Barthes oder Christian Metz wirklich notwendig ist, um Bild-Ton-Relationen oder die medienreflexiven Aspekte in La Jetée zu erörtern (144-172). Auch Bemerkungen wie jene, dass der namenlose Protagonist des Kurzfilms "geradezu exemplarisch den Träumer Henri Bergsons [verkörpert]" (191), könnten behutsamer formuliert, vielleicht sogar vermieden werden. Zum Glück besinnt sich Filser rechtzeitig auf Markers eigene Ansätze, so im Exkurs über Museum und Erinnerung (192-196).
Letztlich versteht die Autorin Marker als Bildwissenschaftler, dessen "Arbeiten [...] den Film, dessen Bilder und ihren Sinngehalt, in einem 'theoretischen Blick' [reflektieren], der die Ungewissheit der Bilder enthüllt" (455). Dieser These ist wenig entgegenzusetzen, wobei vielleicht noch deutlicher herauszufiltern wäre, welche extremen Spannungsprozesse dieser "Ungewissheit" zugrunde liegen. Dies würde den "theoretischen Blick", mit dem Marker die Ungewissheit der Bilder gleichermaßen intellektuell und sinnlich erfahrbar macht, klarer konturieren.
Ein Vergleich der zwei Marker-Bücher, so lässt sich resümieren, ist lehrreich, weil sich daran auch die methodischen Fallstricke im Umgang mit dem Filmemacher vorführen lassen. Dessislava Thomas' Monografie, die wegen des schlampigen Lektorats auch ein verlegerisches Ärgernis darstellt, scheitert letztlich mit ihrem unflexiblen Analysegerüst am Gegenstand. Auch Barbara Filsers Dissertation bleibt nicht ohne Schwächen, doch insgesamt hat sie eine reflektierte und instruktive, filmanalytisch hervorragend fundierte Studie vorgelegt, an die kommende Generationen anknüpfen können. Speziell die Auseinandersetzung mit Chris Marker als politisch motiviertem und künstlerisch agierendem "Analytiker des Bildes" findet hoffentlich Fortsetzer, da dessen skeptische Haltung, die sich nicht mit reduktionistischen Erklärungsmodellen begnügt, auch bereichernde Impulse für die Diskussion um die Bildwissenschaften bereithält. Zu wünschen bleibt freilich, dass die multimedialen Dimensionen seines Schaffens in größerem Umfang berücksichtigt werden, denn Markers Tätigkeit als Bildforscher war keineswegs auf den Film beschränkt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Christina Scherer: Ivens, Marker, Godard, Jarman. Erinnerung im Essayfilm, München 2001, v.a. 19-82 und 363-395. Zur anhaltenden Kontroverse um den Terminus Essayfilm siehe Ralf Michael Fischer: Rezension von: Timothy Corrigan: The Essay Film. From Montaigne, After Marker, Oxford u.a. 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [Abruf: 15.04.2013], http://www.sehepunkte.de/2013/04/20337.html.
[2] Vgl. Timothy Corrigan: The Essay Film. From Montaigne, After Marker, Oxford 2011, 79-103.
[3] Vgl. Sarah Cooper: Chris Marker, Manchester, New York 2008, 6-9.
Ralf Michael Fischer